„Setzen Sie sich!“, lud er mich zuvorkommend ein, nachdem er mich dreimal väterlich an seine Brust gedrückt hatte. Er führte mich zu seinem Schreibtisch und drückte mich sanft in einen Sessel.
„ Wie gefiel Ihnen dieser Liebesfilm?“ „Es ging so, aber mein Nachbar wurde rollig.“
„Was möchten Sie trinken?“
„Ich …“, würgte ich und konnte kein weiteres Wort herausbringen.
„Einen Kognak vielleicht?“, bot er mir an, schoss zur Anrichte rüber und holte ein edles französisches Tröpfchen.
Wir prosteten uns zu.
„Auf Ihren genialen Artikel!“, salutierte er und stürzte den Kognak in einem Zug hinunter.
„Ich habe mich über Ihre Kritik sehr gefreut“, erklärte er, als er sein Glas abgestellt hatte. „Fred, hab ich zu mir gesagt, der Mann versteht was vom Film. Ich darf Ihnen verraten, dass wir beide dieselbe Meinung vertreten. Auch ich finde, dass die Handlung ziemlich geradlinig ist, wodurch keine echte Spannung aufkommen will, und außerdem sind die Dialoge überhaupt nicht umgangssprachlich, sondern wirken steif und konstruiert und wie von Marionetten gesprochen. Sie haben mir aus der Seele gesprochen. Ich danke Ihnen!“
Ich war von der Entwicklung der Dinge absolut überrascht.
„Wissen Sie, alle Filme dieses Regisseurs kotzen mich an. Sie sind durch die Bank von einem geradezu widerlichen Dilettantismus durchsetzt. Aber ich muss sie senden, ob ich will oder nicht. Vertrag bleibt Vertrag!“
„Da kann ich Ihnen nicht widersprechen“, antwortete ich, nicht nur, um etwas zu sagen, sondern auch, um ihm zu zeigen, wie sehr mich seine Worte rührten.
„Deshalb bin ich jedem Kritiker“, sprach er weiter, „der diesen hirnrissigen Schwachsinn erkennt und gebührend verreißt, zu ewigem Dank verpflichtet. Eine Ablehnung seiner Filme kann aber leider erst dann erfolgen, wenn die Intendanten der anderen dritten Programme ihr Einverständnis geben. Und das ist schwierig. Für diese Kunstbanausen zählt doch nur die Quote und kein filmisches Kunstwerk“, schniefte er erregt.
„Sie sprechen mir aus dem Herzen“, pflichtete ich ihm bei. „Wenn Sie es wünschen, werde ich mich um den Verriss seines nächsten Tatorts wieder persönlich kümmern.“
„Sie würden mir damit einen großen Gefallen erweisen. Mich hat allerdings stutzig gemacht, woher Sie Ihr fundiertes Wissen um diesen Film haben, wo er doch kurzfristig wegen einer Sondersendung um eine Woche verschoben wurde.“
Und da soll mal noch einer behaupten, Filmkritiker hätten ein sorgenfreies Leben. Aber wenigstens wusste ich jetzt, dass die Handlung des Tatorts ziemlich geradlinig sein soll, wodurch keine echte Spannung aufkommen wird, und außerdem sind die Dialoge alles andere als umgangssprachlich, sondern wirken steif und konstruiert und wie von Marionetten gesprochen. Ich werde mir jedenfalls nächsten Sonntag diesen miserablen Krimi nicht antun. Vielleicht schreibe ich in dieser Zeit eine Filmkritik. Es gibt so viele Filme, die man noch nicht gesehen hat.
Anfang der Neunzigerjahre stürmten viele meiner ostdeutschen Landsleute die frisch eingemeindeten Westgebiete, wo es flächendeckend Gebrauchtwagenhändler gab. Auch mein Nachbar Felix Stürzler zählte zu jenen vor Ungeduld platzenden Zeitgenossen. Er hatte seine Frau Erika und seinen Sohn Peter in den zwölf Jahre alten Wartburg gezerrt und kurz vor seiner Abfahrt nach Bayern verkündet: „Jetzt wird endlich ein ordentlicher Wagen gekauft. Dreißig Jahre habe ich auf diesen Augenblick gewartet.“
Stürzlers kamen in einem fast ebenso alten, an manchen Stellen durchgerosteten Ascona wieder. Ich musste mir das Lachen verkneifen und tat Felix gegenüber, als würde ich vor Neid fast platzen. Man weiß ja schließlich, was man seinem Nachbarn schuldig ist.
Seit diesem Tag trug er seine Nasenspitze gut zwei Zentimeter höher, als es die menschliche Anatomie vorschreibt. Besonders abfällig äußerte er sich, wenn er mich aus meinem Trabi steigen sah.
„Wie lange willst du denn noch diese stinkende Plastikkiste fahren?“
„Schwer zu sagen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Auf alle Fälle, bis wir das Geld für einen neuen zusammen haben.“
„Also nicht mehr in diesem Jahrtausend“, stichelte Felix.
Trotz der robusten Bauweise des Trabants, den besonders Sparsamkeit und Langlebigkeit auszeichnen, gab eines Tages mein kleines, stets von mir liebevoll gehätscheltes Trabilein seinen Geist auf. Erst hustete er wie ein an chronischer Bronchitis erkrankter Raucher im Endstadium, dann spuckte er wie ein jugendlicher Rotzlöffel und schließlich ging er in den Beamtenstatus über – er rührte sich überhaupt nicht mehr.
Verzweifelt und total hilflos stand ich neben dem Meister, der den Motorraum auf Herz und Getriebe überprüfte. Dann klemmte er sich hinters Steuer, ließ den geplagten Zweitaktmotor schmerzhaft aufheulen, würgte den ersten Gang ins knirschende Getriebe und galoppierte eine Runde um den Hof. So ungefähr stellte ich mir immer Rodeo vor.
„Getriebeschaden!“, stöhnte der Meister, nachdem er sich aus dem Wageninneren geschält hatte. Seine Miene verriet keinerlei Regung. So eine Gefühlskälte war mir bisher noch nie begegnet.
„Schaffen Sie das noch diese Woche?“, fragte ich zögerlich.
„Ha, diese Woche! Sie denken wohl, wir sind nur für Sie da! Unter drei Wochen läuft nichts, höchstens Sie selbst!“
Drei Wochen ohne mein geliebtes Gefährt. Unfassbar! Während solcher entbehrungsreichen Zeiten gleiche ich einem unbeweglichen Psychopathen. Attribute, die auf die furchtbare Silbe -los enden, treffen plötzlich auf mich zu. Lustlos, fantasielos, ziellos zählen da wohl noch zu den harmlosesten.
„Ich brauche mein Auto aber beruflich“, versuchte ich einen letzten Umstimmversuch. Zwecklos!
„Ach, Sie denken wohl, andere brauchen das nicht!“
„Und wenn ich Ihnen das Doppelte für die Reparatur bezahle? Sozusagen als Eilzuschlag!“, wagte ich einen allerletzten Versuch. Nutzlos!
„Und wenn Sie mir …“, schrie er wütend, unterbrach sich aber abrupt, weil neben uns ein VW Passat zum Stehen gekommen war.
Der Meister sprang zu dem Wagen, öffnete geschwind die Fahrertür und verneigte sich vor dem mit Anzug und Krawatte bekleideten Herrn. Dieser maß ihn mit einem geringschätzigen Blick, drückte ihm die Schlüssel in die Hand und sagte: „Wann kann ich den Wagen wieder abholen?“
„Selbstverständlich heute Abend, Herr Reichert.“
Herr Reichert nahm seinen Aktenkoffer vom Rücksitz und verließ erhobenen Hauptes den Hof.
Und wie ich ihm so träumend hinterherblickte, fuhr mich plötzlich dieser Werkstattmeister barsch von der Seite an: „Nun verschwinden Sie endlich! Sie sehen doch, dass wir hier alle Hände voll zu tun haben!“
Ich nahm die Alditüte von der Rücksitzbank meines Trabis und verließ gesenkten Hauptes den Werkstatthof. Ich fühlte mich klasse, leider nur dritter Klasse.
Für die nächsten Tage besorgte ich mir einen Leihwagen, einen nagelneuen VW Polo, und stellte bereits nach den ersten Kilometern einen angenehmen Unterschied fest, der meine Liebe zum Trabi zumindest in bedenkliche Bahnen lenkte.
Als ich den Wagen am Abend auf dem heimatlichen Parkplatz abstellte, straften mich die bösen Blicke meines Nachbarn, der gerade aus seinem angerosteten Ascona kletterte. Neidisch begleitete er jede meiner betonten Bewegungen. Hätte es sich um vertonte Bewegungen gehandelt, wären sie mit Sicherheit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ gleichgekommen.
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