Während er nach oben stieg, spielte ein hintergründiges Lächeln um seine Mundwinkel. Er dachte daran, wie schnell derjenige reagiert hatte, den er gleich treffen würde. Erst vor wenigen Tagen hatte er ihm ein anonymes Schreiben, gespickt mit bestimmten Informationen, zukommen lassen und prompt einen Tag später die Antwort darauf erhalten. Man habe sehr wohl Interesse an dem Wissen, das er gegen einen bestimmten Betrag preisgeben wolle, hatte man ihm mitgeteilt und ihn aufgefordert, in dieser Nacht zum alten Judenfriedhof zu kommen, damit man über die Sache reden könne.
»Endlich«, keuchte der Mann, nachdem er das Plateau erreicht hatte. Zögernd trat er an die marode Mauer heran, die das verwilderte Areal des Friedhofs umschloss.
Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, während er die unregelmäßig verstreuten Grabmäler hinter der Mauer betrachtete, die inmitten alter Bäume und üppig wuchernder Gräser aus dem Boden wuchsen. Vom Zahn der Zeit zu zerspellten, formlosen Gebilden zernagt, ragten sie kreuz und quer empor. Vielleicht war es der Anblick dieser uralten Steine, die selbst zu sterben schienen und im Mondlicht seltsam schimmerten, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Vielleicht aber auch der Umstand, dass er sich an einem Ort befand, der fremd und unheimlich wirkte und so gar nichts mit einem christlichen Gottesacker gemein hatte. Schon allein die seltsamen Schriftzeichen auf den Steinen konnten einen das Fürchten lehren. Was nicht verwunderte. War das nicht die Schrift derer, die den Herrn ans Kreuz hatten nageln lassen, die Schrift der Gottesmörder, Brunnenvergifter und Hostienschänder, kurzum: der ewig Verfluchten, die – so sie sich nicht zum christlichen Glauben bekehrten – in der Hölle schmoren würden? Ausgerechnet diesen Treffpunkt hatte man ihm genannt.
Kiwitt, kiwitt. – Erschrocken sah der Mann nach oben. Der Ruf des Käuzchens, das sich als dunkler Schatten aus einer nahen Baumkrone löste und mit lautlosem Flügelschlag entschwebte, jagte erneut einen Schauer über seinen Rücken.
»Verdammt! Sei kein Hasenfuß und bring’s hinter dich«, schalt sich der Mann. Er betrat den Friedhof durch eine Bresche in der Mauer, doch er musste sich geradezu zwingen weiterzugehen, um nach der Gruft zu suchen, die man ihm als Treffpunkt genannt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis er sie gefunden hatte. Sie befand sich in der Nähe einer Eiche, deren mächtiger Wurzelstock zum Teil aus der Erde ragte und sich bis zur Gruft erstreckte. Vorsichtig stieg der Mann eine zerborstene Steintreppe hinunter und gelangte zu einem Eingang, der nur mit einer Brettertür verschlossen war.
Zuerst zögerte er. Dann aber stieß er die Tür auf und betrat ein stockdunkles, niedriges Gewölbe. Offenbar war die Gruft leer, dennoch roch es nach Moder und Tod. Ihn schauerte, er fror. Das Dunkel, das sich vor ihm auftat, schien undurchdringlich. Er beschloss, keinen einzigen Schritt weiterzugehen, und drückte die Tür so weit auf, dass das Licht des Vollmonds zumindest den Eingangsbereich ausfüllen konnte.
Dann wartete er mit angehaltenem Atem.
»Verdammt, wo er nur bleibt«, murmelte der Mann, nachdem er eine Weile ins Dunkel gestarrt hatte. Er wandte sich um und sah die Steintreppe empor; auf den Stiegen glänzte matt das Mondlicht.
»Keine Sorge, ich bin längst da. Ich ziehe es vor, immer als Erster bei einem Treffen zugegen zu sein. – Halt! Dreh dich nicht um, wenn dir dein Leben lieb ist!«, ertönte plötzlich eine dunkle Stimme in seinem Rücken.
Bereits bei den ersten Worten wollte sich der Mann erschrocken umwenden, doch die unmissverständliche Aufforderung, es nicht zu tun, stoppte seinen Reflex gerade noch rechtzeitig.
Er spürte einen warmen Atem im Nacken.
»Oh, Herr, seid Ihr es?«, fragte er stockend und begann auf einmal zu zittern.
»Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Aber ich sehe, ich habe dich erschreckt. O, wie bedauerlich«, erwiderte die Stimme. Sie triefte geradezu vor Hohn. »Aber sei sicher: Dein Schrecken wird noch größer werden, wenn du erfährst, was dir blüht, sollte das Wissen, über das du zu verfügen behauptest, für mich nicht zu verwerten sein. Insbesondere jenes, das von einem gewissen … Sprüchlein handelt«, – die Stimme hielt kurz inne –, »wie lautete es doch gleich?«
Die Stimme war plötzlich ins Zischen geraten. Gleichzeitig fühlte der Mann, wie sich der linke Arm des hinter ihm Stehenden um seinen Hals legte, während seine rechte Hand nach vorn schnellte und ihm ein Messer unter die Nase hielt.
Zu Tode erschrocken, schielte der Mann auf das matt glänzende Metall.
»Wie … wie das Sprüchlein lautete? … Ihr meint … jenes Verslein, … das ich in dem Brief nannte?«, röchelte er.
»Ja. Nenn es mir. Ich will es aus deinem eigenen Mund hören«, zischte die Gestalt.
»›Die … die Glöckchen aus Akkon, … wie lieblich ihr Klang … So nehmt denn ihr Schönen … den Tod in Empfang‹«, rezitierte der Mann stockend den seltsamen Spruch.
»Ja, das ist richtig. So lautete der Vers. Aber nur ganz wenige kannten ihn. Woher ist er dir bekannt? Sag es mir!«, flüsterte die Stimme.
»Ich will es Euch ja auch sagen. Aber Ihr wisst, dass meine Informationen ihren Preis haben. Außerdem habe ich noch Weiteres in Erfahrung gebracht, das Euch nützlich sein dürfte. In dem Brief, den ich Euch schrieb, stand nicht alles. Ihr werdet mich also am Leben lassen müssen«, entgegnete der Mann und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Ungeachtet der Klinge, auf die er starrte, war seine Kaltblütigkeit zurückgekehrt.
Der Mann fühlte, wie der Arm, der sich um seinen Hals gelegt hatte, zurückgezogen wurde. Doch der Stahl vor seinen Augen blinkte noch immer.
»Du lässt dich nicht so schnell ins Bockshorn jagen, das muss man dir lassen«, tönte die Stimme erneut. Dann folgte ein leises Lachen. »Wie ich schon sagte: Vorausgesetzt, das Wissen, das du anzubieten hast, ist echt, nützt du mir tatsächlich. – In diesem Fall wäre das hier für den Anfang.« Die eine Hand schnellte wieder nach vorne. Diesmal umfasste sie einen prall gefüllten Beutel. Ein leises Klirren ertönte, als sie ihn schüttelte, und ließ das Herz des Mannes höher schlagen. Gierig griff er nach dem Beutel.
Doch sogleich schnellte die Hand wieder zurück.
»O nein. Erst die Ware, dann das Geld, mein Lieber. Wir wollen die guten Kaufmannssitten doch nicht schnöder Gier opfern, nicht wahr?«, spottete er.
Der Mann leckte sich die Lippen.
»Natürlich, Herr, Ihr habt recht. Also lasst Euch berichten.«
Montag, 01. Juni 1388 / Freitag, 19. Juni 1388
Nebelschwaden waberten über die Flussauen, als der Fischer Hermann Luger zur Enns hinunterging, um seine Reusen zu inspizieren. Er hoffte auf einen guten Fang. Den benötigte er auch, sollte er doch heute den Küchenmeister auf der Styraburg mit besonders fetten Forellen versorgen. Sie würden einen Teil des üppigen Festmahls bilden, das der Burggraf am Abend wieder einmal auszurichten gedachte.
Wie jeden Morgen stieg Luger aber erst einmal in sein Boot, das am Ufer vertäut lag, um in gewohnter Weise den mitgebrachten Imbiss zu verzehren: einen Kanten Brot, etwas gesalzenen Fisch und einen Krug Bier.
Gerade hatte er den ersten Bissen hinuntergeschlungen, als der zweite auch schon drohte, ihm im Halse stecken zu bleiben! Sein Blick war plötzlich an einer dunklen Masse hängen geblieben, die sich auf den trägen Fluten flussabwärts bewegte.
»Jesus Christus! Nicht schon wieder«, murmelte er entsetzt, während das seltsame Treibgut an ihm vorüberglitt.
Hastig löste er das Tau, mit dem das Boot am Steg befestigt war, ergriff die Ruderblätter und paddelte mit kräftigen Schlägen hinterher. Gleich darauf hatte er es eingeholt. Ohne sich lange zu besinnen, griff er nach der hakenbewehrten Stange zu seinen Füßen und zog damit nur wenige Augenblicke später eine männliche Leiche an Bord. Weil der Tote mit dem Gesicht nach unten auf die Planken zu liegen kam, vermochte Luger ihn zunächst nicht zu erkennen. Dann aber drehte er die massige Gestalt auf den Rücken – und bekreuzigte sich unwillkürlich.
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