1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 »Und bestell Hauptkommissar Fricke einen schönen Gruß von mir. Er soll unbesorgt sein. Ich habe nicht vor, mich in seinen Fall einzumischen.« Erich zwinkerte ihr zu. »Zumindest vorerst nicht.«
Malin folgte ihrem Großvater in den Flur und nahm ihre Wachsjacke von der Garderobe. Daneben hing Erichs dunkelblauer Blazermantel. Sie erinnerte sich, dass sie in Wenningers Haus ein ganz ähnliches Modell gesehen hatte. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
Wolfgang Herzog band bedächtig seine blau-rot gestreifte Krawatte um den gestärkten Hemdkragen und griff nach den Manschettenknöpfen aus Sterlingsilber mit dem dezent eingravierten Hamburg-Wappen. Die Knöpfe waren ein Geschenk von Verena zu seinem siebzigsten Geburtstag gewesen. Seine Frau war gebürtige Hamburgerin und stammte aus einer der alteingesessenen Unternehmerfamilien.
Wolfgang Herzog musterte sich im Spiegel. Die tiefen Falten, den verkniffenen Mund und die dicken Tränensäcke unter seinen Augen. Schon seit Wochen litt er unter Schlafmangel und wälzte sich Nacht für Nacht im Bett herum. Er hatte mehrfach mit der Möglichkeit gespielt, Schlaftabletten zu nehmen, doch der Gedanke daran, was chemische Substanzen in Kombination mit dem alten, teuren Whiskey, den er so liebte, in seinem Körper auslösen konnten, hielt ihn davon ab.
Aus dem Nachbarzimmer drang klassische Violinenmusik. Erst verhalten, dann nahmen die Töne an Lautstärke und Tempo zu. Mendelssohns Violinkonzert. Verena liebte diese Musik.
Wolfgang seufzte, strich mit der Hand durch sein noch immer dichtes, graues Haar und griff nach dem dunkelblauen Zweireiher. Er war spät dran. In einer halben Stunde erwartete ihn der erste Mandant.
Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Wolfgang Herzog die Kanzlei Herzog Rechtsanwälte mit dem Schwerpunkt Strafrecht gegründet. Mittlerweile beschäftigte seine Kanzlei am Hofweg fünf weitere Anwälte. Trotzdem hielt Wolfgang das Zepter noch immer alleine in der Hand und hatte auch nicht vor, es in absehbarer Zeit abzugeben.
Im Nebenzimmer klingelte ein Handy, und die Musik wurde leiser gedreht. Das Klackern von hohen Absätzen auf dem Parkett war zu hören, und Sekunden später wurde die Tür geöffnet.
»Deins.« Verena hielt ihm sein Handy entgegen und wie immer in letzter Zeit hatte ihre Stimme einen vorwurfsvollen Klang.
Wolfgang setzte zu einer liebevollen Bemerkung an, doch die Tür fiel schon wieder hinter Verena ins Schloss, und die Musik wurde lauter gestellt. Verdammt, sie gab ihm auch nicht die geringste Chance, sich ihr zu erklären!
Wolfgang blickte auf das Display des klingelnden Handys. Unbekannte Nummer. Er räusperte sich kurz, ehe er sich mit ruhiger Stimme meldete. »Wolfgang Herzog.«
»Grabowsky.«
Wolfgang holte tief Luft. »Du sollst mich doch nicht anrufen!«
»Hast du heute schon in die Zeitung geschaut?«
»Nein.«
Es blieb einen Moment still am Telefon, ehe Grabowsky erneut sprach: »Wenninger ist tot.«
»Was sagst du da?« Unvermittelt begann Wolfgang zu schwitzen.
»Ich sagte, Wenninger ist tot. Es stand heute früh im Abendblatt. Ein gewisser Kurt W. aus Wohldorf-Ohlstedt wurde in seinem Haus tot aufgefunden. Ich kenne den Redakteur. Er hat mir bestätigt, dass es sich um Wenninger handelt.« Grabowsky hob die Stimme. »Die Polizei geht von einem Tötungsdelikt aus.«
»Verdammt.« Wolfgang lockerte mit einer Hand seinen Krawattenknoten.
»Wir sollten uns treffen.«
»Ich muss erst darüber nachdenken.« Er legte auf. Sekundenlang verharrte er und starrte auf das Handy in seiner Hand. Dann verließ er das Schlafzimmer, durchquerte das Nebenzimmer und ging in sein Arbeitszimmer, ohne die Stille in der Wohnung zu bemerken. Er setzte sich in seinen Ledersessel hinter dem massiven Schreibtisch, lehnte sich an die Rücklehne und schloss die müden Augenlider. Dann rief er sich das letzte Zusammentreffen mit Kurt Wenninger ins Gedächtnis.
Kurz vor zehn saß Malin mit dem Telefonhörer am Ohr an ihrem Schreibtisch und lauschte dem Song Dancing Queen.
Zuvor hatte sie sich in der Kriminaltechnik nach Gegenstandsspuren in Wenningers Blazermantel erkundigt. Neben einer Brieftasche mit üblichem Inhalt hatten die Kollegen in einer der Seitentaschen eine Taxiquittung sichergestellt. Datum und Uhrzeit auf dem Beleg passten zur Aussage der Nachbarin. Start- und Zielort hingegen fehlten.
Malin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. In der Warteschleife von Alster-Taxi war noch immer Dancing Queen zu hören. Zum siebten Mal in Folge.
»So, ich hab mit dem Fahrer gesprochen«, meldete sich der Disponent, nachdem das Lied zwei weitere Male vom Band gelaufen war. »Sie haben Glück, der Kollege konnte sich an den Fahrgast erinnern. Der alte Herr soll ziemlich betrunken gewesen sein.«
Malin zückte ihren Stift. »Zu welcher Adresse wurde das Taxi bestellt?«
»Nirgendwohin. Der Fahrgast ist am Langenhorner Markt eingestiegen.«
Malin machte sich eine entsprechende Notiz. »Ich würde gerne mit dem Fahrer persönlich sprechen.«
»Dann geben Sie mir Ihre Nummer.« Der Disponent wirkte genervt. Im Hintergrund klingelte pausenlos das Telefon. »Ich sorge dafür, dass der Kollege Sie in seiner nächsten Pause anruft.«
»Gut.« Malin nannte ihm ihre Handynummer. »Und bitte sagen Sie ihm, dass es dringend ist.« Doch ihr Gesprächspartner hatte bereits aufgelegt.
Langenhorner Markt, grübelte Malin. Wo konnte Wenninger gewesen sein, mitten in der Nacht und betrunken?
Die Tür ging auf und Andresen stapfte, dicht gefolgt von Tiedemann, ins Büro. Ein ungleiches Paar, dachte Malin nicht das erste Mal beim Anblick der beiden Ermittler. Andresen war wieder von oben bis unten in dunkles Leder gehüllt, an den Füßen trug er ausgelatschte Cowboystiefel. Im Gegensatz zu seinem rothaarigen Kollegen wirkte Ole Tiedemann in seiner grauen Bundfaltenhose, dem gebügelten Oberhemd und seinem akkurat gescheitelten Haar wie aus dem Ei gepellt. Unter dem Arm trug er eine schwarze Ledermappe. Seine blassen Wangen waren leicht gerötet, und er lächelte zufrieden.
»Es sieht aus, als hättet ihr Neuigkeiten.«
»Wir kommen gerade von der Haspa-Filiale in Volksdorf.« Tiedemann öffnete die Ledermappe und reichte ihr ein Dokument in einer Klarsichthülle. »Wenninger hatte dort ein Bankschließfach.«
Die Überschrift des Papiers stach Malin sofort ins Auge: Mein letzter Wille. Schweigend las sie das Testament, das auf einen Tag im Februar 1991 datiert war. Kurt Wennninger hatte seinen gesamten Besitz einem einzigen Menschen vermacht. Sie hob den Kopf. »Wer zum Teufel ist Michael Baumann?«
Die Durchsage informierte die Passagiere, dass der ICE den Zielbahnhof Hamburg Hauptbahnhof in wenigen Minuten erreichen würde. Michael Baumann wuchtete seine Sporttasche aus dem Gepäckfach.
Höchstens eine Woche würde er in Hamburg bleiben. Das hatte er Ina versprochen. Ohnehin hatte es ihn Überwindung gekostet, sie und die Kleine zurückzulassen. Seit der Geburt seiner Tochter vor knapp zwei Jahren war er nicht einen Tag von seiner Familie getrennt gewesen. Trotzdem musste sie sein, diese Reise, von der er noch nicht wusste, wohin sie ihn führen würde.
Jemand rammte ihm einen Koffer in die Waden und drängelte sich ohne Entschuldigung vorbei. In seiner Hosentasche kündigte ein Fiepen den Eingang einer SMS auf seinem Handy an. Er zog es heraus. Ina wünschte ihm viel Glück.
Michael reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Der ICE passierte die Elbrücken. Dicht an dicht stapelten sich die Container wie Bauklötze auf den Kaianlagen. Michael spürte einen Kloß im Hals. Würde er in Hamburg endlich die Antworten auf die Fragen finden, die ihn so quälten? Er durfte jetzt auf keinen Fall kneifen. Nicht, bevor er Gewissheit hatte.
Der ICE verringerte sein Tempo. Eine riesige Kuppel aus Stahl und Glas kam in Sicht. Wenige Augenblicke später fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam zum Stehen.
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