Nun sollte daraus aber auch nicht geschlussfolgert werden, dass heute gar keine Wunder von Gott bewirkt werden oder keine Zeichengaben (Zungenrede, Prophetie, Heilung usw.) gegeben werden könnten. Der Hinweis auf den Beglaubigungscharakter der Wunder Gottes zur Zeit Jesu schließt nicht aus, dass Gott sein Evangelium auch noch heute spektakulär von Menschen beglaubigen will oder aus irgend einer anderen Motivation durch Wunder handelt. Wird ein Grund des Wunderwirkens Gottes korrekt beschrieben, darf daraus eben nicht geschlossen werden, es gäbe keine anderen Gründe, aus denen Gott auch heute noch außergewöhnlich handelt (z.B. für die Mission, zur Zurechtweisung von Gläubigen, als Ermahnung an die Menschheit, aus Mitleid mit Leidenden usw.). Auch wenn das Neue Testament die Bedeutung von Zeichen und Wundern stark relativiert und deren absolutes Ende deutlich vorhersagt, kann das Aufhören von Zungerede, Prophetie, Heilung usw. in der Gegenwart daraus nicht zwangsläufig geschlossen werden.
2.Der immer wieder zu hörende Hinweis auf die Kirchengeschichte, in der die Zeichengaben schließlich weitgehend aufgehört hätten, ist zwiespältig. Zwar gab es in der nachapostolischen Zeit tatsächlich ein langsames Abflauen der Prophetie, des Zungenredens und der Heilungen. Diese Entwicklung ist wahrscheinlich aber auf den immer größer werdenden Missbrauch dieser Begabungen zurückzuführen. Ein große Zahl von Sektierer jener Zeit bedienten sich Wundertaten zur Beglaubigung ihrer Aussagen (z.B. Gnostiker, Montanisten), so dass in den Gemeinden eine zunehmende Skepsis gegenüber der Aussagekraft „übernatürlicher Mitteilungen” wuchs. Andererseits hörten auch reelles Zungenreden, Prophetie und Heilungen nie vollständig auf. In bestimmten Regionen und zu bestimmten Zeiten traten diese Zeichengaben immer wieder auf, ohne dass Betrug oder Okkultismus dahinter zu stecken schien (z.B. bei den Beginen, den Quäkern, den Methodisten, der Erweckungsbewegung). 14So werden auch aus der Zeit der Germanenmission zahlreiche Wunder berichtet, Offenbarungen, Heilungen, Dämonenaustreibungen usw. (z.B. bei Martin von Tours, Magnoald, Bonifatius). Allerdings überwog in der Kirchengeschichte zumeist der Mißbrauch dieser vorgeblichen Geistesgaben. Mystiker, Täufer, Pietisten und Inspiriertengemeinden beriefen sich auf Prophetie und Wundertaten Gottes. 15Damit wollten sie unter anderem Irrlehren, Morde und sexuelle Ausschweifungen rechtfertigen. Im 19.Jahrhundert waren es Prediger der Erweckungsbewegung, aber auch die Gründer der Mormonen, Adventisten und Neuapostolischen, die übernatürliche Mitteilungen Gottes zur eigenen Legitimation heranzogen: Gott habe ihre Berufung durch Wunder bestätigt, habe ihnen prophetisch den Termin für das Weltende, den Trick selbst Gott zu werden oder die Aufforderung, mehrere Frauen zu heiraten, mitgeteilt. 16
So muss festgestellt werden, dass ein gänzliches Ende aller Zeichengaben in der Kirchengeschichte nicht nachzuweisenist. Folglich liefert der Blick in die Geschichte keinen eindeutigen Beleg dafür, dass es in der Gemeinde heute weder Glossolalie noch Heilungen oder Prophetie mehr geben könne. Und selbst wenn diese Charismen in den vergangenen Jahrhunderten wirklich verschwunden wären, könnte daraus nicht abgeleitet werden, dass Gott diese Gaben dauerhaft nicht mehr haben wolle. Die Ursachen für das mögliche Verschwinden könnten nämlich ganz unterschiedlich sein: Ungehorsam der Kirche, kaum Zweifel an der Wahrheit der Bibel im Mittelalter, Nachlässigkeit der Gläubigen usw. Darüber hinaus kann auch in anderen Lebensbereichen der Gemeinde nicht unmittelbar von der geschichtlichen Entwicklung auf den Willen Gottes geschlossen werden. Das weitgehende Aufhören der Glaubenstaufe in der Kirchegeschichte des Mittelalters beispielsweise kann wohl auch kaum als Argument dafür herhalten, dass diese Taufpraxis von Gott nicht mehr gewollt sei. Es ist eben nicht unbedingt möglich, vom Sein auf das Sollen zu schließen. Bezüglich des Zungenredens und anderer Zeichengaben könnte ebenso argumentiert werden, die Gemeinde hätte die Glossolalie über einen längeren Zeitraum hinweg gegen den Willen Gottes vernachlässigt oder gar unrechtmäßig unterdrückt. Ebenfalls wäre es möglich, dass Gott erst wieder in der Neuzeit die Notwendigkeit sah, Christen in Zungen sprechen zu lassen, möglicherweise im Zusammenhang mit der neu aufbrechenden Weltmission.
3.Die charismatische Praxis von Zungenreden, Heilung und Prophetie weicht auffällig häufig von den eindeutigen biblischen Vorgaben ab. Da wird gelehrt, der Heilige Geist befähige alle Christen zur Glossolalie (dagegen: 1Kor 12,10f.30), Gott heile alle, die ihm vertrauen (dagegen: Phil 2,25ff; 2Tim 4,20), Prophetie könne gelernt werden (dagegen: Lk 1,67; 2Petr 1,21), Zungenrede müsse nicht ausgelegt werden (dagegen: 1Kor 14,27f), christliche Propheten könnten sich irren (dagegen: 5Mo 18,22; Jos 21,45) usw. Kritiker der Charismatischen Bewegung schließen daraus, dass diese „charismatischen Gaben” nicht von Gott bewirkt seien und es diese heute gar nicht mehr gäbe. Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass ein falscher Gebrauch der Geistesgaben deren echtes Vorkommen nicht verunmöglicht. Neben menschlich produziertem und möglicherweise okkultem könnte durchaus auch echtes Zungenreden, Heilen und Prophezeien stehen. Die offensichtlichen Differenzen zwischen biblischen Aussagen und der Praxis in einigen Teilen der Charismatischen Bewegung sollten angesprochen werden, ohne allerdings sofort Rückschlüsse auf die Legitimität der Geistesgaben heute zu ziehen.
Insgesamt gesehen können durchaus ernsthafte Argumente für das Ende der Zeichengaben in der Gegenwart vorgebracht werden. Eindeutige Belege für das Aufhören von Zungenrede, Prophetie und Heilungen sind das jedoch nicht. Deshalb konzentriert sich die Auseinandersetzung im Folgenden eher auf die charismatische Praxis und nicht so sehr auf die Frage, ob diese Gaben auch heute noch vorkommen können. (vgl. dazu Michael Kotsch: Die Charismatische Bewegung, Band 2, Lage 2008).
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11 Vgl. H.Hübner, Art.: teleios, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.3, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp. 821-824
12 Vgl. H.Hübner, Art.: katargeo, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.2, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp. 659-661 / G.Schneider, Art.: pauo, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.3, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp.146
13 Vgl. G.Barth, Art.: apisteo, apistia, apistos, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.1, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp. 290-295
14 Vgl. Oskar Föller, Charisma und Unterscheidung, Wuppertal: R.Brockhaus Verlag, 1994, S.10ff
15 Vgl. Oskar Föller, Pietismus und Enthusiasmus - Streit unter Verwandten, Wuppertal: R. Brockhaus, 1998
16 Vgl. Helmut Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit, Berlin: Union Verlag, 1980
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