Michael Kotsch - Die Charismatische Bewegung 1

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Geschichte – Personen – Organisation, E-Book
Keine Gruppe der weltweiten Christenheit wuchs in den letzten Jahrzehnten so schnell wie die Charismatische Bewegung (und Pfingstgemeinden). Ihre Lehre betont die neutestamentlichen Gnadengaben Gottes (Charismata), insbesondere Zungenrede, Prophetie und Heilung. In ihrer Praxis legen Charismatiker Wert auf Emotionen, geistliche Erfahrungen, die Verbundenheit aller Christen und soziales Engagement. Neben zahlreichen positiven Herausforderungen für jeden Christen haben sich unter dem charismatischen Dach auch unbiblische Anschauungen und Praktiken entwickelt. Gesellschaftlich kann die Charismatische Bewegung als postmoderne Erlebnisreligion bezeichnet werden. In dieser Broschüre sollen die Geschichte, die Überzeugungen, die Praxis, die Gemeinden und die bekanntesten Personen der Charismatischen Bewegung vorgestellt und eingeordnet werden.

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1.Im Zentrum der Auseinandersetzungen um das mögliche Ende jener Zeichengaben aus 1Kor 12 + 14 steht die Ankündigung, dass Prophetie, Zungenrede und Erkenntnis aufhören werden, wenn „das Vollkommene” gekommen ist(1Kor 13,8-10). Uneinigkeit besteht unter den Exegeten darüber, wann das der Fall sein wird und was konkret unter dem „Vollkommenen” zu verstehen ist. Einige sehen darin den abgeschlossenen und deshalb „vollkommenen” Kanon des Neuen Testaments, was jedoch dadurch unwahrscheinlich erscheint, da Paulus in diesem Zusammenhang nicht vom schriftlich fixierten Wort Gottes spricht. Auch sonst wird das Wort Gottes zwar als vollkommen beschrieben (Ps 19,8; Jak 1,25), nie aber „das Vollkommene” genannt. Andererseits ist die Auslegung des „Vollkommenen” als Zustand in der Ewigkeit Gottes nicht ganz zufriedenstellend. Zwar entspräche diese Interpretation der Aussage des Paulus, „… dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt worden bin” (1Kor 13,12), andererseits soll auch dann noch das geistliche Leben von Hoffnung und Glauben gekennzeichnet sein (V. 13). Doch scheint dieses auf eine noch ungewisse Zukunft ausgerichtete Verhalten kaum zum Leben in der Gegenwart Gottes zu passen, in der es nichts mehr zu hoffen und zu glauben gibt, da doch alles erreicht und gewiss ist. Es wurde auch vorgeschlagen, „wenn das Vollkommene ( teleios ) da ist” als „wenn die vollkommene Reife erreicht ist” oder „wenn ihr erwachsen im Glauben geworden seid” zu übersetzen, was sprachlich durchaus möglich ist. 11Demnach wären neutestamentliche Prophetie und Zungenrede lediglich Gaben für die erste, noch unreife Zeit der Gemeinde. Nach deren lehrmäßiger und organisatorischer Festigung im 1. und 2. Jahrhundert hätten diese Gaben ihren Zweck erfüllt und könnten zurücktreten (vgl. Eph 4,13ff), zumal Paulus im Zusammenhang mit der Glossolalie von Unreife der Gemeinde spricht, die überwunden werden solle (1Kor 14,20). Diese Übersetzungsmöglichkeit spricht allerdings nicht für ein generelles Aufhören der Glossolalie, sondern lediglich für deren eingeschränkte Nutzung bei noch „unreifen”, geistlich „nicht erwachsenen” Christen.

In diesem Zusammenhang wird zurecht darauf hingewiesen, dass Paulus für das Aufhören von Prophetie und Erkenntnis ein anderes Verb benutzt als für das Ende des Zungenredens. Betont das erste ( katargeo ) eine aktive Handlung, hebt das zweite ( pauo , im Medium) das eher selbstständige zur Ruhe kommen der Sprachenrede hervor (1Kor 13,8). 12Dieser Unterschied kann dahingehend ausgelegt werden, dass Gott Prophetie und Erkenntnis am Ende der Zeiten in einem autoritativen Eingriff beendet, wohingegen das Zungenreden schon vorher selbstständig ein Ende findet. Allerdings muss bei dieser Deutung beachtet werden, dass das Verb pauo auch das längere Aussetzen einer Tätigkeit meinen kann (Pause machen), wohingegen das andere Verb katargeo gewöhnlich ein absolutes Ende bezeichnet. Demnach wäre es durchaus möglich, dass die Sprachenrede nach längerem Aussetzen in späterer Zeit erneut auftritt.

Gegen den dauerhaften Einsatz des Zungenredens in der Gemeinde spricht deren Erklärung als Zeichen für ungläubige Juden„Ich will mit fremden Sprachen und fremden Lippen zu diesem Volk reden …” (1Kor 14,21; Jes 28,11ff). Durch das Zungenreden und andere Zeichengaben sollte Israel deutlich gemacht werden, dass Gott jetzt auch mit und durch Heiden handelt (Apg 10,44-46; Röm 11f.25-27; Gal 3,28). Da dieser Zweck zwischenzeitlich erfüllt ist und darüber hinaus in den meisten Gemeinden keine Juden mehr gegenwärtig sind, fällt damit auch der ursprüngliche Grund der Sprachenrede. Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass in 1Kor 14,21 zwar von einem Zeichen für die Juden gesprochen wird, in den Versen vorher und nachher aber nicht von Juden, sondern von Ungläubigen ( apistos ) die Rede ist. Damit sind gewöhnlich alle Menschen gemeint, die dem Evangelium von Jesus Christus keinen Glauben schenken. 13Demnach wäre das Zungenreden nicht nur ein Zeichen für Juden, sondern auch für ungläubige Heiden. Sollten, gegen den sprachlichen Befund, mit der Glossolalie nur Juden angesprochen werden, könnte daraus kein Ende dieser Geistesgabe abgeleitet werden, da auch heute noch Juden dadurch überzeugt werden könnten, seien sie nun Besucher des entsprechenden Gottesdienstes oder hörten sie nur aus der Entfernung von diesem Phänomen. Außerdem ist es problematisch anzunehmen, dass der von Paulus angeführte Grund des Zungenredens als Zeichen für die Juden der einzige Zweck der Glossolalie sein muss, da er doch andernorts beispielsweise davon spricht, dass Zungenreden den Gläubigen selbst erbaut (1Kor 14,4) und eine Zwiesprache mit Gott ist (1Kor 14,2.28).

Gegen das fortwährende Zungenreden wird auch angeführt, dass es vor allem als Beglaubigungszeichen Gottes für die Wahrheit des Evangeliumsdiente. Nach dem Abschluss des neutestamentlichen Kanons habe die Bibel diese Funktion übernommen. Allerdings reduziert diese Interpretation den Zweck des Zungenredens unzulässig auf diesen Beglaubigungsaspekt und schlussfolgert ohne biblischen Beleg, dass ein solches Zeichen neben der Bibel heute nicht mehr von Gott gewollt sei. Dabei wäre es durchaus denkbar, dass Gott Glossilalie auch heute noch als außergewöhnliches Zeichen für ungläubige Zweifler nutzt, obwohl diese auch im Neuen Testament lesen könnten.

Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Glossolalie im Neuen Testament keinen besonders herausgehobenen Statuseinnimmt. Außer in der Apostelgeschichte wird sie nur im ersten Korintherbrief erwähnt, in dem die Gemeinde wegen falschen Einsatzes und Überbewertung der Zungenrede zurechtgewiesen werden musste. Weil die Sprachenrede in den anderen Schriften des Neuen Testaments nicht erwähnt wird,schließt man, dass sie in den übrigen Gemeinden nur eine untergeordnete Rolle spielte oder schon im Verlauf der neutestamentlichen Zeit gänzlich zum Erliegen kam. Hier handelt es sich allerdings um eine Argumentation, die sich lediglich auf das Schweigen zahlreicher Schriften des Neuen Testaments stützt. Ein solches Vorgehen ist natürlich sehr spekulativ. Ebenso könnte über das Ende der Taufe oder des Abendmahls räsoniert werden, weil sie nicht in allen neutestamentlichen Schriften erwähnt werden. Darüber hinaus könnte auch einfach davon ausgegangen werden, dass alle Gemeinden die Glossolalie in dem von Paulus gesetzten Rahmen praktizierten und sich deshalb weitere Anweisungen erübrigten.

Immer wieder wird betont, dass die durch den Heiligen Geist gewirkten Zeichen in erster Linie der Beglaubigung der Sendung Jesu(vgl. Joh 3,2; Apg 2,22; Hebr 2,3f) und der von ihm bevollmächtigten Apostel (Röm 15,19; 2Kor 12,11f) dienten. Durch die von ihm bewirkten Wunder wollte Gott eine zuverlässige und glaubwürdige Basis für den Aufbau der zukünftigen Gemeinde schaffen (Eph 2,20; Offb 21,14). Nachdem Jesus und die Apostel dieses Fundament gelegt hatten, erübrigten sich diese Beglaubigungswunder. Insofern widerspiegeln die Zeichen und Wunder der Evangelien und der Apostelgeschichte eine historisch einmalige Zeit. Demnach richten sich die Wunderverheißungen Jesu ausschließlich an die von ihm berufenen Jünger in ihrer Funktion als Gründer der christlichen Gemeinde (Mk 16, 15-18). Auch im Alten Testament scheint Gott nur in der Zeit der Staatsgründung Israels durch Mose und Josua und später durch Elia und Elisa eine außergewöhnliche Zahl spektakulärer Wunder gewirkt zu haben, während sein Eingreifen zu anderen Zeiten weniger sichtbar ist. Demnach wäre das Wirken Gottes durch Zeichen und Wunder heilsgeschichtlich gesehen die Ausnahme, die Offenbarung durch sein Wort hingegen der Normalfall. Tatsächlich wird für die „letzte Zeit” von Jesus keine neue Epoche außergewöhnlicher Wunder Gottes vorhergesagt, sondern Christenverfolgungen (Mt 10,17; 24,9f; Joh 15,20; 2Tim 3,12) und spektakuläre Wunder falscher Propheten (Mt 24,5.11.24; 2Thess 2,9; Offb 13,13). Diese Aussagen machen deutlich, dass Wunder immer interpretationsbedürftig sind und auch von Dämonen bewirkt werden können. Eine besondere Häufung von Wundern in der Gegenwart jedenfalls kann biblisch kaum begründet werden. Immer wieder zitierte Prophetien des Alten Testaments (Joel 3,1; Jes 44,3; Hes 36,27; Am 8,10 - vgl. Apg 2,15ff) haben sich größtenteils in der Zeit Jesu und der Apostel erfüllt, andere Aussagen beziehen sich auf die Zeit, wenn Israel Jesus als Messias anerkennt oder wenn Gott auf der Erde regieren wird.

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