Damit wären wir bei einem weiteren Vorteil des E-Bikes. In Kroatien steigt das Thermometer zuweilen auf über 33 Grad im Schatten. Bei sonnenausgesetzten Anstiegen ist mein Reisepartner jeweils am Leiden, denn dann wird ihm richtig heiss, nicht nur wegen der zusätzlichen Anstrengung, sondern auch, weil dann der Fahrtwind fehlt. Ich hingegen lege in solchen Situationen den Turbo ein und düse den Berg hoch, ohne dabei ins Schwitzen zu kommen.
Das Einzige, was mir mit meinem Elektrovelo zuweilen etwas Probleme macht, sind die abschätzigen Blicke von manchen Rennradfahrern und Veloreisenden: Dem E-Bike-Fahrer haftet der Makel des Schwächlings an. Ein junger Tourenfahrer aus Bern meinte sogar, er könne verstehen, wenn alte Leute mit elektrischer Unterstützung fahren würden, aber bei jüngeren fände er das schon etwas lächerlich. Ich wusste dann nicht genau, ob ich nun erst lachhaft bin oder etwa schon alt; tröstete mich aber mit dem Fakt, dass der Jungspund auf dem Weg nach Kroatien die relativ flache Variante via Bozen, Trento und Venedig wählte, während wir einige der schönsten Pässe im Südtirol in Angriff nahmen.
Mit meiner Reise will ich dazu beitragen, dass sich das Image des E-Bikes verändert. Man muss ja nicht unbedingt grosse Reisen machen oder viel Sport treiben. Man kann es auch einfach im Alltag nutzen. Dafür gibt es schlagende Argumente: Für 10 E-Bike-Kilometer braucht man über den Daumen gepeilt gleich viel Energie, wie um einen Liter Wasser auf 100 Grad zu erhitzen. Das ist auch für das Portemonnaie gut, denn die dafür verbrauchte Energie kostet weniger als 15 Rappen. Und last but not least: Die Hälfte aller Autofahrten sind bloss fünf oder weniger Kilometer lang. Für solche Distanzen benötigt man mit einem E-Bike maximal 15 Minuten. Das Potenzial für die Umwelt ist riesig, wenn man bedenkt, dass kalte Benzinmotoren besonders viele Abgase ausstossen. Auch darum möchte ich mit dem Flyer nach China fahren. Denn wenn ich es bis nach Peking schaffe, kann ich andere vielleicht dazu motivieren, mit dem E-Bike an den Arbeitsplatz oder zum Einkaufen zu fahren.
China beginnt in Montenegro
«China ist ein schlafender Löwe, lasst ihn schlafen!
Wenn er aufwacht, verrückt er die Welt!»
Napoleon I. Bonaparte, französischer Feldherr (1769 – 1821)
Wir sind bereits auf der Seidenstrasse. Das ist kein Witz, sondern die neue Realität. Etwa eine Stunde nachdem wir Podgorica, die Hauptstadt von Montenegro verlassen haben, fahren wir an einem blauen Torbogen mit chinesischen Schriftzeichen vorbei: Hier baut die Chinese Road and Bridge Cooperation eine Autobahn von der Adriaküste bis an die serbische Grenze.
Ein Monsterprojekt, für das sich der Kleinstaat mit bloss 600 000 Einwohnern tief verschuldet. Die rund 160 Kilometer lange Strasse, die wegen der anspruchsvollen Topografie viele Tunnels und Viadukte erfordert, wird voraussichtlich mehr als 2 Milliarden Euro kosten. Den Vorschuss gewährt China, womit sich der EU-Anwärter aber auch abhängig macht.
Für uns wird die Etappe zwischen Podgorica und der Kleinstadt Berane super spannend. Sie führt über weite Teile entlang der Baustelle. Lange sehen wir keine Chinesen, sondern bloss fertige Schneisen, Tunneleingänge und planierte Flächen, die jedoch noch nicht asphaltiert sind. Etwa zur Tagesmitte kommen wir an einem ersten Camp vorbei, einer Ansammlung von Baracken mit blauen Dächern, die jedoch ziemlich verlassen wirken. Nach einer Abfahrt in einen Talkessel erblicken wir dann riesige Pfeiler eines künftigen Viaduktes – und hier hat es tatsächlich Arbeiter mit asiatischen Gesichtszügen. Ich teste mein «Ni hao» und ernte dafür freudige Gesichter.
Ich liess die Shebikerider-Trikots bloss in Englisch beschriften. So blöd und so eurozentrisch. Und wie ich jetzt feststelle, beginnt das Reich der Mitte eigentlich schon auf der Türschwelle zu Europa. Dazu kommt: Den Sinn hinter «One Road, One Belt, One E-Bike», dem englischen Slogan, den ich für die Trikots gewählt habe, verstehen die meisten Europäer ohnehin nicht. Die «One-Belt-One-Road»-Initiative, mit der China die alten Handelswege neu beleben will, ist den wenigsten ein Begriff. Seit ich mich wegen meines Projekts mit China befasse, denke ich, der Westen sollte sich zwingend dafür interessieren. Das, was da passiert, wird die Welt verändern. Schon die alten Römer wussten, wie wichtig Transportwege sind – und wo ihre Strassen hinführten, nahmen sie Einfluss.
So oder so: Die chinesischen Arbeiter lesen kein Englisch. Würde ich chinesische Schriftzeichen tragen, hätte das wahrscheinlich für eine ziemliche Aufregung auf der Baustelle gesorgt. Schliesslich bauen die Arbeiter an der Strasse, auf der ich fahren möchte – wobei es natürlich nicht gerade eine Autobahn sein müsste, ein schöner Fahrradweg würde mir reichen.
Der Kosovo heilt Vorurteile
«Am meisten über einen Menschen sagt nicht aus,
wie er mit Freunden umgeht,
sondern mit Fremden.»
Dante, italienischer Dichter und Philosoph (1265–1321)
Ich schäme mich. Richtig fest. Für alle Vorurteile, die man in der Schweiz gegenüber Menschen aus dem Kosovo hegt. Wir sind nun schon seit zwei Tagen in diesem kleinen Staat im Herzen des Balkans – und was wir erleben, berührt uns sehr.
Zum Beispiel dies: Da kommen zwei Velofahrende, die schon seit drei Stunden im Sattel sitzen und dementsprechend verschwitzt sind, auf einer kleinen Nebenstrasse an einem Hochzeitskonvoi vorbei, der gerade zum Haus der Familie abzweigt – und werden von der Strasse weg an das Fest eingeladen.
Mitgeschleppt werden wir vom Onkel des Bräutigams. Wir sind sehr neugierig, wissen aber erst nicht so recht, ob unsere Anwesenheit dem Rest der Hochzeitsgesellschaft und vor allem dem Brautpaar überhaupt recht ist. Auch fühlen wir uns in unseren Trikots mehr als fehl am Platz.
Deshalb bleiben wir zu Beginn mit sicherem Abstand in der Einfahrt zum Haus stehen, aber nicht lange: Von allen Seiten wird uns versichert, dass unsere Aufmachung überhaupt kein Problem sei – und dass wir doch unbedingt noch zum Essen bleiben sollen.
Die Verständigung ist einfach: Die Frischvermählten, Besnik und Albenita Gashi, sind in der Westschweiz aufgewachsen, und mindestens die Hälfte der Anwesenden lebt sonst wo in Europa. Einzig die für uns ungewöhnlich laute Musik erschwert die Kommunikation etwas.
Gerne hätten wir noch etwas länger mit dem Brautpaar geplaudert, aber nach den Gratulationen und ein paar Tänzen ziehen sich die beiden zurück. Sie müssen sich ausruhen. Das Fest hat bereits gestern begonnen, momentan sind nur die engsten Familienmitglieder anwesend – abends folgt dann die grosse Sause mit rund 400 Gästen.
Wir fahren am späten Nachmittag weiter nach Pristina. Wir haben noch immer 60 Kilometer vor uns und die werden richtig anstrengend werden. Denn für einmal haben wir schlecht geplant und landen auf einer stark befahrenen Strasse: Bestimmt die Hälfte der Fahrzeuge hat Kennzeichen aus der Schweiz, Deutschland oder sonst einem mitteleuropäischen Land.
Wo wir auch anhalten, kommen wir bald mit jemandem ins Gespräch, der Deutsch oder gar Schweizerdeutsch spricht. Wobei wir uns dann nicht etwa mit Touristen unterhalten, sondern mit Secondos, die im deutschsprachigen Raum leben und ihre Sommerferien in der alten Heimat verbringen. Und immer sind die Leute ungemein hilfsbereit – etwa, wenn es darum geht, eine ruhige Nebenstrasse zu finden.
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