» Mike Sinyard, US-amerikanischer Fahrradbauer (*1950) Foto: Marc Böhler Ich fahre nach China, mit einem E-Bike. Theoretisch wäre ich noch fit genug, um diese Reise mit einem normalen Tourenvelo anzutreten. Aber mit elektrischer Unterstützung hat der Trip einen zusätzlichen Reiz: Noch nie ist jemand mit einem handelsüblichen E-Bike von Europa nach Asien gefahren. Einmal im Leben der Erste sein, und die Erste sowieso. Warum nicht mit dem E-Bike nach China flyern ? Es gibt wahrlich Anstrengenderes – etwa über den Pazifik schwimmen, zum Mars fliegen oder auf den Mount Everest biken. Meine Herausforderung besteht darin, immer rechtzeitig eine Steckdose zu finden. Auch bin ich gespannt, wie sich meine beiden 630-Wattstunden-Akkus bei Hitze und Kälte verhalten. Und ob ich als Technikbanause mit diesem Hightech-Gerät tatsächlich nie eine Panne haben werde, die mich an meine Grenzen bringt. Meine Mission: Ich möchte beweisen, dass die heutigen E-Bikes fit für ein solches Abenteuer sind. Das Pedelec ist eine geniale Erfindung – und wenn ich unter Strom nach China fahren kann, schaffen es andere damit doch sicher auch an den Arbeitsplatz oder zum Supermarkt. Wenn sich Herr und Frau Schweizer in ein Auto setzen, tun sie das in fast der Hälfte aller Fälle für eine Fahrt von weniger als 5 Kilometer. In Deutschland und Österreich dürften die Zahlen ähnlich sein. Mit einem E-Bike, das mit einer Unterstützung bis 25 Kilometer pro Stunde fährt, benötigt man folglich für solche Fahrten weniger als eine Viertelstunde – und das ganz ohne Stress bei der Parkplatzsuche. Das E-Bike ist ein Heilmittel gegen fast alle Krankheiten der modernen Welt: Es hilft gegen Stau, Lärm, Luftverschmutzung, Klimaerwärmung, Bewegungsmangel und damit auch gegen Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und kardiovaskuläre Erkrankungen. Darum haben E-Bikes mehr Aufmerksamkeit verdient – und dafür will ich mit meiner Reise über die Seidenstrasse sorgen. . Schritt für Schritt habe ich die Vorbereitungen in Angriff genommen. Daran geglaubt, dass ich das Ganze tatsächlich mal realisieren werde, habe ich selber nicht so recht. Morgen ist es so weit und jetzt macht es mir Angst, furchtbare Angst.
Das Bargeld und die Kreditkarte trage ich auf der Haut, den Rosenkranz meiner Mutter um den Hals. Und der Schweizer Pass liegt immer griffbereit im Körbchen über dem Vorderrad. Doch mitten in der islamischen Republik helfen Gott und Vaterland wohl wenig. Und Papier und Plastik lassen sich einer abgekämpften Radfahrerin leicht abnehmen.
Abgesehen davon wird mich mein Flyer Upstreet 5 mit Tretunterstützung bis zu 25 Kilometer pro Stunde und 36-Volt-Motor als Kapitalistin entlarven. Und dann ist da auch noch ein Computer, eine Kamera und allerlei teures Camping-Material im Gepäck. Ich fahre eine Ausrüstung im Wert von rund 10 000 Franken spazieren. Notabene in Regionen dieser Welt, in denen dieser Betrag weit mehr als ein Jahreseinkommen ist.
Ganz zu schweigen von meiner Verletzlichkeit als Frau: Ich werde durch Länder reisen, in denen sich Männer nicht gewohnt sind, eine sportlich aktive Frau in der Öffentlichkeit zu sehen. In denen ich die Sprache nicht spreche und deshalb nicht erklären kann, dass ich im Fall bloss gerne Velo fahre und mein Sitzen im Sattel nicht als sexuelle Einladung zu verstehen sei.
Es ist einfach ungerecht, dass sich männliche Reisende keine solchen Gedanken machen müssen. Und darum hat Angsttheoretiker Søren Kierkegaard vielleicht doch recht, obwohl ich seine Feststellung über die Furcht des Weibes gerne als Geschwätz eines alten Mannes abtun würde. Allerdings möchte ich präzisieren: Frauen haben mehr Angst, weil sie in dieser Welt mehr Angst haben müssen.
Gleichzeitig weiss ich, dass die Wahrscheinlichkeit, einem Lüstling zu begegnen, der mir hinter einem Busch abpassen könnte, relativ gering ist. Zürich-Peking ist nicht meine erste Fahrradreise. Ich war unter anderem schon als Solo-Fahrerin auf Kuba, Korsika und an der Westküste der USA unterwegs. Belästigt wurde ich noch nie – und das trotz feurigen Latinos, gesetzlosen Separatisten und hemdsärmligen Holzfällern.
Auf den rund 12 000 Kilometern nach Peking werde ich auf mehr als der Hälfte der Strecke nicht allein sein, sondern von wechselnden Reisepartnern begleitet. Solo werde ich voraussichtlich bloss in China, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan fahren. Zudem lerne ich derzeit Chinesisch, und die Bürger der nördlichen Stan-Länder gehörten einst zur UDSSR und sollten aus dem Kommunismus zumindest theoretisch wissen, was Gleichberechtigung ist.
Wenn da diese Lust am Entdecken nicht wäre, würde ich mich wahrscheinlich von meiner Angst zu Hause festsetzen lassen. Ich habe vor jeder Reise Existenzängste und denke beim Abschiednehmen jeweils, dass ich meine Freunde und Familie vielleicht nie mehr sehen werde. Aber meine Neugier auf die Welt ist grösser, und darum habe ich gelernt, meine Angst zu managen.
Paradoxerweise gelingt mir das am besten mit dem Gedanken an die grösste Gefahr, der ich mich aussetzen werde: Autos und Lastwagen. Das Risiko, von einem unaufmerksamen Verkehrsteilnehmer abgeschossen zu werden, ist für alle Menschen gleich gross, egal ob Mann oder Frau. Zudem fahre ich auch zu Hause Velo. Das heisst, mir könnte auch ohne diese Reise etwas passieren. Das Leben als Radfahrerin ist gefährlich. Um meiner Leidenschaft frönen zu können, habe ich mich schon vor langem an diesen Gedanken gewöhnt.
Und überhaupt: Heutzutage ist man im Notfall fast von jeder Ecke dieser Welt innerhalb von 24 Stunden wieder zu Hause. Ich fahre morgen einfach mal los, aufgeben und abbrechen kann ich dann immer noch. Mit diesem Gedankenspiel habe ich es bisher immer geschafft, mir Mut zu machen. Auch weil ich inzwischen weiss: Wenn ich erst mal auf dem Velo sitze, dann verfliegt die Angst – und die Freude am Entdecken der Welt nimmt überhand.
«Nichts ist vergleichbar mit der einfachen Freude,
Rad zu fahren.»
John F. Kennedy, 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (1917 – 1963)
Die gute Nachricht zuerst: Mein Flyer fliegt problemlos über die Berge. Und die Angstvor der grossen Reise ist erst mal weg. Vieles andere läuft nicht so wie geplant. Gleich zu Beginn musste ich die Abreise um einen Tag verschieben, wegen eines fürchterlichen Hexenschusses. Ich führte die Schmerzen auf das Räumen der Wohnung verbunden mit dem Schleppen von Kisten zurück. Es gab aber auch Stimmen, die meinten, es sei wohl psychosomatisch…
Am Mittwoch vor sieben Tagen ging es dann also los. Die Stimmung war super, als ich Beat, meinen ersten Reisepartner, in Zug traf. Wir änderten dann auch gleich mal die Route und entschieden uns, die Schweiz anstatt über den Bernina via Ofenpass zu verlassen – um etwas nördlicher und damit länger in den Bergen zu bleiben.
Inzwischen liegen die Alpen bereits hinter uns, und wir sind schon richtig weit gekommen. Vielleicht sogar etwas zu weit. In sieben Tagen haben wir fast 700 Kilometer und mehr als 9000 Höhenmeter absolviert. So viel war nicht geplant. Aber es ist nicht die erste Veloreise, bei der ich es am Anfang total übertreibe.
Auch hätte ich mir eigentlich bereits früher Zeit nehmen wollen, um einen Blog zu schreiben. Aber: Zuerst stieg zu Hause der Server aus, dann mühte ich mich mit zahlreichen technischen Probleme ab, die meine gefühlt tausend Geräte, die ich mitführe, verursachten. Das Bluetooth vom Handy wollte sich nicht mit jenem vom Navigationssystem verbinden, das Outlook streikte, nachdem es sich in ein ungesichertes Netz eingeloggt hatte. Und die GoPro-Kamera habe ich überhaupt noch nicht im Griff. Ich fürchte, all diese Gadgets werden mich noch das ganze kommende Jahr vor Herausforderungen stellen. Und immer wieder das Netz: Ich vermisse das Büro wirklich nicht, aber das schnelle WLAN schon sehr.
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