»Vermisst«, wiederholte Stahnke.
»Ja«, bestätigte Kramer schlicht. Er wusste ebenso gut wie Stahnke, dass die Suche nach Vermissten nicht die Aufgabe des FK 1 war, jedenfalls nicht, ehe diese Vermissten sich als entführt, misshandelt, sonstwie verletzt oder als tot herausstellten. Also musste sein Anliegen einen besonderen Grund haben.
»Lass mich raten«, sagte der Hauptkommissar. »Vermisst auf Langeoog?«
»Stimmt«, erwiderte Kramer. »Jedenfalls im Prinzip. Vermisst wird Dr. Lichterfeld, wie schon gesagt, in Leer. Von seiner Frau. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort aber war in der Tat Langeoog.«
»Klugscheißer«, knurrte Stahnke.
»Angenehm«, sagte Kramer. Gleichbleibend neutral.
Stahnke schluckte eine Replik hinunter. »Und was soll ich jetzt machen? Ausschwärmen und den Typ zwischen den Dünen suchen? Und Lüppo Buss steht wohl daneben und spendet mir Applaus! Weißt du eigentlich noch, dass Lüppo hier auf der Insel zuständig ist?«
»Für den Anfang könntest du mal Kontakt zu ihm aufnehmen«, antwortete Kramer ungerührt. »Ich krieg ihn nämlich nicht ans Telefon.«
»Handy?«
»Mailbox.«
»Fax, E-Mail?«, fragte Stahnke weiter. »Oder Brieftaube?«
»Mensch, Stahnke.« Jetzt fiel Kramer doch aus seiner Stoiker-Rolle, wurde drängender. »Dieser Dr. Lichterfeld ist nicht irgendwer. Dem gehört die große Tagesklinik in der Leeraner Innenstadt, jedenfalls zum großen Teil. Seine Frau macht mächtig Druck. Dedo de Beer hat bei mir schon auf der Matte gestanden, kaum dass ich heute früh im Dienst war.«
»Na und? Gibt es bei uns neuerdings einen Promi-Bonus? Oder interessiert sich etwa irgendwer für irgendwas, das de Beer sagt?« Stahnke gab sich widerborstig. Noch, denn eigentlich war sein Widerstand bereits gebrochen. Nicht etwa, weil Dedo de Beer sein direkter Dienstvorgesetzter war – den hätte er eiskalt abblitzen lassen, schließlich konnte er den ebenso wenig leiden wie de Beer ihn. Aber seinem Kollegen Kramer würde er den Gefallen tun. Schließlich war er ihm noch mehrere schuldig.
Kramer wusste das und schwieg.
Stahnke seufzte. »Also gut, sag deinem Mattenabnutzer, dass du hier alle Hebel in Bewegung gesetzt hast. Will sagen, mich. Darf ich vielleicht vorher noch meinen Morgenkaffee trinken?«
»Selbstverständlich«, sagte Kramer. »Und wenn du mit Lüppo gesprochen hast …«
»Dann melde ich mich, alles klar«, unterbrach ihn Stahnke. »Übrigens, danke.«
»Danke wofür?«
»Für den Kaffee.« Stahnke drückte den Aus-Knopf, legte sein Handy auf den Küchentisch, erhob sich.
Und setzte sich sofort wieder hin, denn das Handy begann erneut zu zirpen. »Ja?«
»Lüppo hier.« Die Stimme des Inselkommissars klang kraftvoll und war trotz des knisternden Rauschens, das sie zu übertönen trachtete, gut zu verstehen. »Wie ich höre, bist du hier auf der Insel. Kommt mir gut zupass. Könnte gerade etwas Unterstützung gebrauchen.«
Da bist du nicht der Einzige, dachte Stahnke. »Was gibt’s?«, fragte er.
»Letzte Nacht ist jemand in den Dünen überfallen worden«, berichtete Lüppo Buss. »Einer aus Leer, ein Arzt, wohl ein ziemlich bedeutender, jedenfalls tut er so. Jetzt sitzt er bei mir im Büro und verlangt, dass ich ihm den Täter auf dem Silbertablett serviere, und zwar zackig.« Wieder musste sich Lüppo Buss’ Stimme gegen ein lautes Rauschen durchsetzen.
Ein schadenfrohes Lächeln dehnte Stahnkes Gesicht in die Breite. »Und du stehst jetzt draußen im Wind und telefonierst mit dem Handy? So ein nerviger Typ ist das?«
»Erraten«, bestätigte der Inselpolizist freudlos. »Der haut fürchterlich auf den Putz. Selbst für einen Doktor.«
»Lass mich raten«, sagte Stahnke. »Der Mann ist nicht nur Arzt, sondern auch der Besitzer einer Tagesklinik in Leer, jedenfalls zum großen Teil?«
»Stimmt.« Ehrfürchtiges Staunen klang aus Lüppo Buss’ Stimme. »Sag bloß, du kennst den Mann!«
»Jedenfalls dem Namen nach. Dr. Dietz Lichterfeld, nicht wahr?« Selbstzufrieden lehnte sich der Hauptkommissar zurück und rieb sich raschelnd die stoppeligen Wangen. So schnell hatte er noch keinen Fall gelöst.
»Lichterfeld? Nö. Der Mann heißt van der Werft, Dr. Henning van der Werft. Da warst du auf dem falschen Dampfer, mein Freund.« Die Ehrfurcht war ebenso aus Lüppo Buss’ Stimme gewichen wie das breite Lächeln aus Stahnkes Gesicht. »Wie sieht es nun aus, kann ich auf dich zählen? Nur ein bisschen Präsenz zeigen, damit mir der Doc nicht mehr so auf den Senkel geht.«
»Klar, mach ich. Bis gleich.« Stahnke beendete das Gespräch.
Merkwürdig, dachte er, als er ins Bad eilte, das Mobiltelefon in der Hand. Ein merkwürdiger Zufall ist das. Wenn überhaupt.
Nach Kaffee war ihm nicht mehr zumute.
Die Kälte, denkt er, die Kälte ist im Augenblick das Schlimmste. Durch den steinernen Boden dringt sie ihm bis ins Mark, von seiner viel zu dünnen, teilweise zerrissenen Kleidung kaum gehindert, macht seine Haut taub und lässt seine Muskulatur unkontrolliert schlackern. Seine Nase läuft, seine Oberlippe ist von Rotz verklebt, den er nicht einmal wegwischen kann, weil seine Hände gefesselt sind, fachkundig gefesselt, so dass seine gelegentlichen wütenden Befreiungsversuche rein gar nichts gefruchtet haben, und seine Nasenflügel fühlen sich schon dick und entzündet an. Auch sein Hals tut weh. Wenn er noch lange hier liegen muss, holt er sich womöglich eine Bronchitis. Und mehr. Im Augenblick ist die Kälte wirklich das Schlimmste.
Und er wünscht sich, wünscht sich sehnlichst, dass das noch möglichst lange so bleibt.
Aber das wird nicht passieren. So viel hat er schon begriffen.
Sind da schon wieder Schritte? Wenn ja, dann sind es die seines Entführers. Sonst scheint hier niemand vorbeizukommen.
Nein, wohl doch nicht. Niemand in der Nähe. Schreien hat hier gar keinen Zweck. Klar hat er es versucht, als er es gerade einmal gekonnt hat und Schritte zu hören waren, aber dann sind es wieder seine gewesen, und er hat nichts unternommen, um die Schreie zu unterbinden. Er unternimmt nie etwas dagegen, sagt nicht einmal, dass Schreien sinnlos sei. Deutlicher kann er das gar nicht ausdrücken.
Dann, nachdem er das Schreien aufgegeben hat, hat der andere ihm wieder Wasser eingeflößt, sonst nichts, nur Wasser. Und dann hat er ihm wieder Spritzen verabreicht.
Oh Gott, diese Spritzen! Diese unglaublichen Qualen. Unvorstellbar schlimm, schlimmer als der Tod.
Der Tod wäre besser. Er wünscht ihn sich herbei. Nicht immer, aber immer dann, wenn der andere mit der Spritze kommt.
Und der andere weiß das. »Irgendwann ist es vorbei«, raunt sein Peiniger immer wieder mit diesem samtenen Tigergrollen in der Stimme, »irgendwann hast du es überstanden. Aber noch nicht. Jetzt noch nicht.« Dann die kleinen Stiche, dann wieder zurück in die Hölle.
Und jetzt? Irgendwas ist da, irgendein Geräusch. Manchmal hört man hier den Wind, dann zieht es auch etwas stärker als gewohnt, auch besonders starken Regen hat er schon hören können, und einmal auch etwas, das er für Meeresrauschen gehalten hat. Was für ein Raum ist das wohl, in den der andere ihn gesteckt hat? Ein Keller vermutlich oder ein Lagerraum. Sehen kann er jedenfalls überhaupt nichts. Die Dunkelheit hier drinnen ist absolut. Außer, wenn der andere kurz seine Lampe aufleuchten lässt, um sich zu überzeugen, dass sein Opfer noch lebt.
Oder um sich an seinen Qualen zu weiden. Oder beides.
Die Tür. Da draußen ist eine Tür laut ins Schloss gefallen, eine eiserne Tür, die Tür. Vielleicht ist es wieder windiger geworden. Da, die Schritte. Nicht so energisch wie sonst, eher etwas schleppend, aber eindeutig die seines Entführers. Und damit nicht weniger bedrohlich als sonst. Er kommt, er kommt! Alles wie immer, alles wieder von vorn.
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