Das Gesicht meiner kleinen Schwester tauchte vor meinem inneren Auge auf. Wie sie mich anlächelte. So jung und unschuldig.
Was würde ich tun, wenn meine Schwester so krank wäre?
Tief in meinen Gedanken versunken, bekam ich einen riesengroßen Schreck, als die Tür krachend gegen die Wand flog.
»Rima!«
Der Mann stürmte auf mich zu und versetzte mir einen Stoß, wodurch ich unsanft auf meinem Hinterteil landete. Ohne mich eines Blickes zu würdigen ging er vor dem kleinen Mädchen in die Hocke, packte sie an den Schultern und schüttelte sie leicht.
»Was hast du hier zu suchen«, beklagte er sich bei ihr. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von der Hütte fernhalten?«
Die Kleine antwortete nicht und der Mann änderte seine Taktik. »Hat sie dir wehgetan?«, fragte er mit ruhiger Stimme.
»Nein«, antwortete das Mädchen, welches offenbar Rima hieß.
Ein hübscher Name.
»Verdammt noch mal.« Der Mann richtete sich auf. »Dir hätte sonst was passieren können, dieses Weib ist gefährlich!«
Weib? Meine Augen verengten sich.
»Sie ist nicht gefährlich«, ergriff Rima plötzlich Partei für mich. »Sie heißt Solea und sie hat mir Honig gegeben.
Wie von Sinnen packte der Mann Rima am Kinn und zwang sie den Mund zu öffnen.
»Ausspucken«, befahl er und ließ erst wieder von ihr ab, nachdem ein winziges Stückchen von der übrig gebliebenen Honigpastille auf dem Lehmboden aufschlug.
Dann richtete er sich auf, wirbelte herum und kam auf mich zu. In Erwartung weiterer Schläge riss ich reflexartig beide Arme hoch, und versuchte mein Gesicht zu schützen.
»Nein«, hörte ich Rima schreien und als ich einen Blick in ihre Richtung riskierte, sah ich, wie sie sich zwischen uns drängte.
»Tu ihr nicht weh«, flehte das kleine Mädchen mit weinerlicher Stimme.
»Sie ist meine Freundin.«
Der Mann machte große Augen.
»Deine Freundin?«, echote er.
Rima nickte entschlossen. »Du darfst ihr nicht wehtun.«
Beinahe hätte ich gelächelt, doch ich war starr vor Angst. Der Mann hatte seine aggressive Haltung nicht aufgegeben, ganz im Gegenteil, energisch versuchte er Rima von mir wegzuzerren, was ihm jedoch erstaunlicherweise nicht gelang. Rima wehrte sich hartnäckig gegen ihn. Schlussendlich beugte er sich vor und nahm das Mädchen kurzerhand auf den Arm.
»Schluss damit«, grollte er und wandte sich zum Gehen.
Als sein Gesicht im Feuerschein eintauchte, erkannte ich den Mann, der mich unlängst vor einer Rauchvergiftung gerettet hatte. Er war viel jünger als ursprünglich von mir angenommen. Bereits im Begriff die Hütte mit Rima zu verlassen, nahm ich all meinen Mut zusammen und legte meine Hand auf seinen Arm. Erschrocken hielt er inne.
»Sie ist sehr krank«, flüsterte ich, in der Hoffnung, die Kleine würde mich nicht verstehen. »Sie braucht ganz dringend Toramuskraut, sonst schafft sie die nächste Sommerruhe nicht.«
Als wollte ihre Krankheit meine Behauptung untermauern, bekam Rima einen weiteren Hustenanfall. Kurzentschlossen griff ich in meine Jackentasche und drückte ihr die letzten beiden Honigpastillen in die Hand.
»Der Honig wird deinen Husten lindern«, sagte ich, ohne auf seinen grimmigen Blick einzugehen. Und an ihn gewandt fügte ich leise hinzu: »Aber nicht für lange.«
Er antwortete nicht, sondern verließ nun endgültig mit Rima die Hütte. Wieder stand ich alleine hier, zum dritten Mal in Folge. Doch diesmal war etwas anders.
Ich fühlte mich nicht mehr allein, weil ich eine neue Freundin gewonnen hatte. Und ich wusste genau, dass sich Rima nicht davon abhalten lassen würde, mich erneut aufzusuchen; das verschaffte mir eine gewisse Art von Genugtuung. Still in mich hinein lächelnd, warf ich einige Zweige ins Feuer, ließ mich anschließend wieder auf der umgedrehten Tischplatte nieder und schloss meine Augen.
Mein Magen begann zu knurren und ich versuchte es zu ignorieren. In dieser Hütte würde ich nichts Essbares finden, die Mühe konnte ich mir getrost sparen.
Was sollte nun aus mir werden? Würde ich hier drinnen sterben? Elendig verhungern oder vielmehr erfrieren, sobald das Feuerholz zur Neige ging?
Diese und weitere bedrückende Gedanken begleiteten mich in einen unruhigen Schlaf und weit in meine Träume hinein.
Geweckt wurde ich von einem erbärmlichen Krächzen, welches sich entfernt wie der Schrei eines Kibidu anhörte. Schwarzbraun gefiederte Vögel mit einer kräftigen Lunge. Sie konnten nicht besonders gut fliegen, dafür aber umso lauter schreien, sobald die Sonne einen neuen Tag ankündigte. Vater hielt sich einige Exemplare davon. Ihre Eier schmeckten herrlich nussig.
Dieser arme Vogel schien jedoch sehr viel von seiner Stimme eingebüßt zu haben. Oder er hatte schlichtweg vergessen, wie man vernünftige Töne von sich gab.
Jedenfalls wusste ich nun, dass ein neuer Tag angebrochen war. Mühsam rappelte ich mich auf und wurde sogleich von meinem knurrenden Magen begrüßt. Eine für mich völlig unbekannte Situation, noch dazu äußerst unangenehm.
Ich hatte noch nie Hunger leiden müssen.
Zuhause stand immer ein Korb mit Obst auf dem Tisch, im Küchenschrank lag stets ein frisch gebackenes Brot und die Vorratskammer war bis unter den Giebel gefüllt mit eingelegtem Fleisch und geräuchertem Speck. Kuchen und Kekse gab es, so viel ich wollte, wann immer ich Appetit darauf hatte.
Was würde ich jetzt für eine Scheibe Brot geben, dick mit Kräuterbutter bestrichen. Bei dem Gedanken lief mir das Wasser im Mund zusammen und mein Magen rebellierte noch lauter. Hinzu kam die unerbittliche Kälte, die sich immer weiter in der Hütte ausbreitete und mich schlottern ließ. Das Feuer musste schon vor einer Ewigkeit erloschen sein. Mit einem Blick auf den kläglichen Holzhaufen überlegte ich, ob ich es wagen sollte. Wenn ich nicht erfrieren wollte, musste ich versuchen das Feuer in Gang zu bringen, soviel stand fest.
Da vernahm ich Schritte vor der Hütte.
Hastig suchte ich die klägliche Behausung nach einem Unterschlupf ab. Die spärlichen Lichtstrahlen, die durch die zugenagelten Fenster eindrangen, reichten nicht ganz bis zu dem provisorischen Nachtlager aus feuchten Lumpen, weshalb ich diese Ecke auswählte, um mich zu verkriechen.
Kaum hatte ich mein Versteck erreicht, wurde die Tür auch schon geöffnet.
Zu meiner Erleichterung betrat eine Frau die Hütte. Ich erkannte die Vorsteherin.
»Du kannst herauskommen«, bot sie an und schwenkte einen kleinen Korb hin und her. »Oder willst du nichts essen?«
Essen?
Zögernd kam ich aus meinem Versteck hervor.
»Hilf mir mal«, forderte die Frau mit einem Kopfnicken zum Tisch und stellte ihren Korb auf dem Boden ab.
Gemeinsam drehten wir den Tisch herum.
Sie bückte sich, griff nach dem Korb und reichte ihn mir.
»Danke«, sagte ich höflich, auch wenn ich bei meiner Ankunft bereits gelernt hatte, dass in diesem Dorf kaum Wert auf gute Umgangsformen gelegt wurde.
»Nur zu«, ermunterte sie mich, als ich vorsichtig in den Korb spähte. Ich entdeckte ein Stück Fleisch, einige Beeren und einen Becher mit Wasser. Erst da wurde mir bewusst, wie durstig ich war. Gierig stürzte ich das Wasser hinunter und erschrak vor der eisigen Kälte, weshalb ich mich bekleckerte.
»Geschmolzener Schnee«, merkte die Frau an.
Neugierig betrachtete ich den letzten Rest Wasser im Becher, konnte aber keinen Unterschied zu unserem Quellwasser ausmachen.
»Jetzt mach schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, drängte mich die Frau, während ich zögernd den Inhalt des Korbes inspizierte.
Das Fleisch sah merkwürdig aus und unterschied sich im Geschmack deutlich von dem unseren. Schlecht gewürzt und sehr mager. Die Beeren waren beinahe vertrocknet und rochen leicht säuerlich. Trotzdem stopfte ich alles in mich hinein. Mein Hunger war größer als der Ekel vor dem Unbekannten.
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