Thomas Breuer - Leander und die Stille der Koje

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Nahmen Rickmers, Leiter des Hegerings Föhr, wird in der Boldixumer Vogelkoje tot aufgefunden. Der Leiter der Inselpolizei, Torben Hinrichs, will vor allem den guten Ruf des Toten schützen. Also verwischt er Spuren, die darauf hindeuten, dass sich Rickmers wegen eines außerehelichen Verhältnisses im Kojenwärterhäuschen aufgehalten haben könnte, und lenkt den Verdacht auf den Umweltschutzverein Elmeere, der seit Jahren von den Bauern und Jägern der Insel massiv bekämpft wird. Der Bürgermeister erreicht über seine Kontakte ins Innenministerium, dass das LKA den Fall übernimmt. So bekommt Lena Gesthuysen, Kriminalhauptkommissarin des LKA, die Leitung der Ermittlungen übertragen. Sie stürzt sich statt in einen erholsamen Urlaub in die Ermittlungen und frisst sich innerhalb kürzester Zeit in den Intrigen und Wirrnissen der Inselverhältnisse fest. Ihr Freund Henning Leander greift schließlich trotz ihres Verbotes mit Hilfe seiner Skatfreunde in die Ermittlungen ein.

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Ein Schrei riss ihn aus dem Traum, in dem er in den Weiten der Salzwiesen Dutzende von Pfeif-, Knäk- und Krickenten fotografiert hatte, und Heinz brauchte einen Augenblick, bis er wusste, wo er sich befand. Vor ihm lag der Teich im Dunkel der heraufziehenden Nacht. Im Mondlicht hatten die Enten ihre Köpfe unter das Gefieder gesteckt, und Heinz erkannte, dass er seine Chance erneut verpasst hatte. Jetzt musste er unverrichteter Dinge seine Ausrüstung wieder abbauen und durch den nächtlichen Forst der Vogelkoje zurück zum Zaun und zu seinem Fahrrad finden, möglichst ohne erneut in den Graben zu rutschen. Als er sich mit schmerzenden Gliedern von der harten Bank erhob, merkte er, dass der Schlick in seinen Socken inzwischen hart geworden war und die Gelenke an einer glatten und runden Bewegung hinderte. Er zog die Schuhe und die Socken aus und klopfte zunächst die harte Kruste aus der Baumwolle, bevor er die widerspenstigen Dinger wieder anzog.

Da ertönte zum zweiten Mal ein gellender Schrei, der Heinz daran erinnerte, warum er überhaupt aufgewacht war, und ihm einen Schauer über den Rücken jagte, so dass er trotz der lauen Sommernacht unvermittelt fröstelte. Das war aus der Richtung des Kojenwärterhäuschens gekommen. Er brauchte noch einige Augenblicke, um Mut zu fassen, dann stand er leise auf und stolperte durch die Dunkelheit die Treppe hinab und an der Pfeife vorbei bis zum Haus. Vorsichtig glitt er an der Seite entlang nach vorne, versuchte durch das Fenster, das so verschmutzt war, dass es gerade noch einen matten Lichtschimmer von innen durchließ, vergeblich einen Blick in die Hütte zu erhaschen, und erreichte die Tür in dem Moment, in dem sie von innen aufgestoßen und ihm mit voller Wucht vor den Kopf geknallt wurde. Heinz Baginski strauchelte und wurde von einer schwarzen Gestalt, die aus dem Haus stürzte, zu Boden gerissen. Es dauerte einige Schrecksekunden, bis er sich wieder gesammelt hatte. Er versuchte sich mühsam aufzurappeln, und da – im Bruchteil einer Sekunde – glaubte er gar, aus den Augenwinkeln noch einen zweiten Schatten wahrzunehmen, der dem ersten folgte. Aber das konnte auch die Folge des Kopfstoßes sein, der ihn quasi ein Echo sehen ließ. Ehe er wieder einen klaren Gedanken fassen und sich aus dem Gestrüpp erheben konnte, waren die Gestalten in der Dunkelheit des Hohlwegs verschwunden, der zur Klappbrücke am Haupteingang führte.

Heinz Baginski rappelte sich mit schmerzendem Schädel auf, bemerkte nun, da er sich im Gebüsch einen Dorn in den rechten Fuß jagte, dass er noch immer keine Schuhe trug, und humpelte auf einem Bein zur Tür des Kojenwärterhäuschens. Ein kalter, weißer Lichtstreifen fiel auf den Weg davor. Vorsichtig näherte er sich der Türöffnung, immer darauf gefasst, dass noch weitere Gestalten herausstürzen und ihn umrempeln könnten. Aber da kam niemand mehr.

Als Heinz Baginski nun durch die offene Tür in das beleuchtete Kojenwärterhäuschen spähte, bot sich ihm ein Bild, das genau die Gefühle in ihm auslöste, vor denen sein Arzt ihn so dringend gewarnt hatte. Und so kam es, dass an diesem Abend zum dritten Mal ein Schrei die Stille der Boldixumer Vogelkoje zerriss.

3

»Scheiße!«, fluchte Polizeioberkommissar Hinrichs und knallte den Hörer auf die Gabel. »Wenn uns da einer verarscht, dann kann er sich warm anziehen.«

»Was ist denn los?«, fragte Polizeihauptmeister Jens Olufs gelassen, der derartige Ausbrüche seines Chefs schon gewohnt war.

»Eine Leiche in der Boldixumer Vogelkoje«, antwortete Hinrichs knapp.

»Ja, klar. Warum nicht gleich ein Amoklauf mit fünfzehn Toten in der Lembecksburg?«

»Vorsicht, Jens. Treib’s nicht zu weit«, knirschte Hinrichs mit einem gefährlichen Unterton, so dass Olufs schlagartig den Ernst der Lage erkannte.

In diesem Moment klingelte die Mikrowelle. Hinrichs öffnete die Tür und zog einen Teller mit dem Backfisch heraus, den er sich gerade aufgewärmt hatte. Er bugsierte das heiße Fischfilet direkt vom Teller zurück zwischen die beiden Baguettehälften auf dem Tisch, zupfte das Salatblatt zurecht und wickelte die Serviette drum herum. Jetzt sah das Backfischbrötchen wieder aus wie vor zwei Stunden, als er es im Fischerhus in der Mühlenstraße gekauft hatte. Und es war wieder exakt genauso heiß, denn auch da war es aus der Auslage zuerst in die Mikrowelle gewandert.

Hinrichs angelte den Autoschlüssel vom Schreibtisch, warf ihn Olufs zu und setzte sich die Dienstmütze auf. »Du fährst«, bestimmte er. »Sonst wird mein Abendessen wieder kalt.«

Während der Fahrt im blau-silbernen Passat durch die Marsch biss Hinrichs herzhaft in sein Backfischbrötchen und störte sich nicht im Mindesten daran, dass sich die Remoulade auf seinen Wangen, dem Doppelkinn und im Schnauzbart verteilte. Erst als sie fett auf sein Hemd tropfte, quetschte er ein »Scheiße, Mann!« zwischen Fisch- und Brötchenstücken heraus, wodurch sich das Tropfen beschleunigte und die Sauce auf dem Hemd eine stückige Konsistenz annahm. An der Boldixumer Vogelkoje angekommen, stieg er aus dem Auto und wischte mit der fettigen Serviette an seinem Hemd herum. Das machte alles noch schlimmer, so dass Hinrichs das Papiertuch zerknüllte und wütend in den Graben warf.

»Vorsicht, Chef«, sagte Olufs. »Das ist ein Tatort. Nachher findet die Spusi die Serviette, und die Spuren auf Ihrem Hemd führen dann direkt zu Ihnen.«

Er fing sich einen vernichtenden Blick seines Vorgesetzten ein, der nun in die Knie ging und die Serviette schnaufend wieder aus dem Graben angelte. Dann schritt Hinrichs gefolgt von Olufs über die Brücke und betrat als Erster das in tiefem Dunkel gelegene Gelände der Vogelkoje. Vor den Beamten erstrahlte das Kojenwärterhaus hell erleuchtet unter den nächtlich schwarzen Bäumen. Sie erkannten eine zitternde Gestalt, die ohne Schuhe neben der offenen Tür auf der Erde kauerte und sich nun erhob.

»Na endlich!«, rief der Mann und machte humpelnd ein paar Schritte auf sie zu. »Wissen Sie eigentlich, was es heißt, neben einer Leiche hier in der Dunkelheit zu warten?«

»Sie haben uns angerufen?«, überhörte Hinrichs routiniert die Kritik.

»Baginski«, stellte der Mann sich vor. »Heinz Baginski aus Bottrop. Da drin liegt ein Toter.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe ihn gesehen!«

»Nein, ich meine, woher wissen Sie, dass er tot ist?«

Heinz Baginski stutzte. Die Frage war berechtigt. Er hatte der Leiche wirklich nicht den Puls gefühlt. Aber dann sah er das scheußliche Bild im Geiste wieder vor sich. »Das Blut«, stammelte er. »Überall ist Blut.«

»Na gut, Sie warten hier, wir sehen uns das mal an.«

Hinrichs machte ein paar vorsichtige Schritte auf die offene Tür zu, Jens Olufs folgte ihm. Und dann sahen auch sie, dass es da keinen Zweifel gab. Der Tote musste ein geradezu klaffendes Loch im Hinterkopf haben, denn er lag in einer Blutlache, die mit gelbweißen Stücken vermischt war. Hinrichs hatte zwar noch nie Gehirnmasse gesehen, aber so hatte er sie sich immer vorgestellt. Und dann erkannte er etwas, das ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, und er wusste, dass er handeln musste. Schließlich hatte er als Chef der Inselpolizei eine Verantwortung für das große Ganze.

Auch Jens Olufs trat nun einen Schritt näher heran, da sein Vorgesetzter ihm mit seiner Leibesfülle den Blick versperrte.

»Pass auf das Blut auf«, ranzte Hinrichs. »Latsch da bloß nicht rein!«

Olufs achtete genau darauf, wo er hintrat, und versuchte, das zur Seite gedrehte Gesicht des Toten zu erkennen.

»Mann«, entfuhr es ihm dann. »Das ist ja der Rickmers. Was macht der denn nachts in der Vogelkoje?«

»Genau die Frage stellt sich«, brummte Hinrichs und fügte wie nur für sich selbst bestimmt hinzu: »Und deshalb müssen wir jetzt handeln. Der Mann hat einen Ruf zu verlieren. Nahmen Rickmers ist nicht irgendwer!«

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