„Das will ich Ihnen doch die ganze Zeit sagen. Aber Sie wollen ja nicht zuhören! Oder kann ich jetzt weitererzählen?“, erwiderte Reiher.
Torben konnte nur stumm nicken und setzte sich, bereits jetzt innerlich erschöpft, wieder hin.
„Nach diesem Knall, Schuss oder was auch immer, wurde es sehr hektisch im Führerbunker. Was genau vor sich ging, weiß ich nicht, da ein SS-Mann dafür sorgte, dass ich in der Wachstube blieb. Diese grenzte allerdings an die Telefonzentrale und ich konnte einige Gesprächsfetzen auffangen. Irgendwann wurde mir klar, dass man von Hitlers Tod sprach. In diesem Moment wusste ich zwar, dass der Kampf endgültig verloren war, ich wollte es jedoch nicht wahrhaben. Ich fühlte mich so verloren. Ich war unendlich traurig und doch auch stolz auf den Führer, dass er sich nicht hatte lebend gefangen nehmen lassen. Er hatte sich quasi für Deutschland geopfert; ein Weg, den ich in diesem Moment auch beschreiten wollte. Sie werden jetzt sicherlich denken, ich wäre ein Alt-Nazi oder so etwas. Weder stimmt das, noch spielt es irgendeine Rolle, aber damals in diesem Bunker brach meine kleine Welt, wie ich sie kannte, auseinander.“
Jetzt war es Reiher, den seine eigene Erzählung sichtlich mitnahm. Er sah noch älter aus, als er war. Dennoch fuhr er fort: „Mit der Zeit beruhigte ich mich etwas und nach ein paar Stunden führte man mich in ein kleines Arbeitszimmer. Dort traf ich auf Martin Bormann, Reichsleiter und Sekretär Adolf Hitlers. Er brauchte sich nicht vorzustellen. Jeder wusste, was das für ein machthungriges Schwein war. Selbst in dieser ernsten Situation versicherte er sich zuerst in der herablassenden und arroganten Art, die ihm eigen war, ob mein Name Konrad Reiher sei. Als ich bejahte, teilte er mir mit, dass das Großdeutsche Reich einen neuen Kanzler namens Joseph Goebbels habe, der von mir erwarte, dass ich einen ungemein wichtigen Auftrag, der die weitere Zukunft des Reiches beeinflussen könne, für ihn erledige.
Bormann übergab mir ein kleines, unförmiges Päckchen, etwas größer als ein Stück Butter, und einen verschlossenen Brief ohne Adresse und erklärte mir, dass ich diese Sachen nach Carinhall in der Schorfheide, den Landsitz Hermann Görings, bringen solle. Entsetzt über die Order und dadurch alle Befehlshierarchien vergessend, erwiderte ich, dass dies völlig unmöglich sei. Sie müssen nämlich wissen, Carinhall lag fünfzig Kilometer nördlich und die russischen Truppen hatten Berlin quasi schon vollständig eingenommen. Bormann lehnte sich daraufhin zurück und schaute mich selbstgefällig an. Er erklärte mir, dass ich eine Generalvollmacht des Reichskanzlers erhalten werde, die mir die Unterstützung aller mir begegnenden deutschen Truppen zusichere.
Am liebsten hätte ich ihm als Antwort ins Gesicht geschrien, dass es keine deutschen Truppen mehr gab und eine solche Generalvollmacht bei einer Gefangennahme dafür sorgen könne, dass ich sofort standrechtlich erschossen würde. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich wollte nur noch raus aus diesem Bunker, den ich mittlerweile als übergroßes Grab empfand. Ich fasste den Entschluss, sollte mir dies gelingen, sofort zu desertieren.
Aber so einfach machte Bormann es mir nicht. Auf meine Bedenken ging er überhaupt nicht ein, sondern empfahl mir, wie er es nannte, in ziviler Kleidung zu reisen. Dann wies er eher beiläufig darauf hin, dass bei einem Misserfolg meiner Mission meine Eltern, die sich ja nur einige Dutzend Meter entfernt im Lazarett befanden, ebenso wie ich selbst als Volksverräter hingerichtet würden. Er wünschte mir viel Glück und wandte sich wieder dem Abfassen eines Briefes zu.
Mein Kopf schien auf einmal fast zu explodieren und ich starrte ihn fassungslos an, denn Bormann hatte soeben nicht nur meinen Tod, sondern auch den Tod meiner Eltern beschlossen. Als er aufblickte und fragte, ob noch etwas wäre, entgegnete ich geistesgegenwärtig, wie seine Befehle lauten würden, wenn Carinhall bereits eingenommen oder verlassen wäre.
Bormann, über die Nachfrage verwirrt, dachte kurz nach, nannte mich einen ausgesprochen guten Soldaten und sagte, in diesem Fall – und nur dann – müsse ich die Sachen im Schloss Dammsmühle in Wandlitz abliefern. Das Anwesen gehöre dem Reichsführer der Waffen-SS Heinrich Himmler. Mein Auftrag werde dann auch als erfolgreich erledigt angesehen werden. Danach forderte mich Bormann mit einem Handzeichen auf, den Raum zügig zu verlassen.
Vor der Tür wartete bereits ein SS-Mann, der mir einen alten Anzug, eine Lederjacke, die Vollmacht sowie eine Pistole 08 mit Kniegelenkverschluss und zwei Handvoll Munition übergab. Als ich mich umgezogen hatte, führte er mich nach draußen.
Ich weiß bis heute, dass die Treppe, die aus dem Bunker in den Garten führte, siebenunddreißig Stufen zählte; mit jeder einzelnen wuchs meine Entschlossenheit, den verdammten Auftrag zu erfüllen, um das Leben meiner Eltern zu retten. Natürlich wollte ich mich nicht nach Carinhall durchschlagen, das war völlig unmöglich. Noch in Bormanns Büro hatte ich mich entschlossen, es nach Wandlitz zu versuchen. Ich kannte mich in der Gegend aus, weil mein Vater mich immer zum Jagen dorthin mitgenommen hatte. Zudem betrug die Entfernung weniger als dreißig Kilometer, also nur etwas mehr als die halbe Strecke nach Carinhall, allerdings dreißig Kilometer, die mitten durch die feindlichen Linien führten.
Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, weil diese Geschichte nichts mit der Ihres Großvaters zu tun hat. Aber ich habe es geschafft. Ich habe zwei Nächte und einen Tag gebraucht, aber ich habe das Unmögliche geschafft. Ich bin durch Abflussrohre gekrochen, einige Kilometer habe ich mit einem gestohlenen Fahrrad zurückgelegt und zweimal hätten mich die Russen fast erwischt. Aber am Morgen des 2. Mai 1945 habe ich das Schloss erreicht.
Als ich dort jedoch feststellte, dass alle deutschen Truppen offensichtlich bereits abgezogen waren, stieg Panik in mir auf. Das Schloss schien vollständig verlassen. Als ich mich ihm näherte, bemerkte ich allerdings zu meiner großen Erleichterung hinter einem der Fenster des Ostflügels Bewegungen. Kurz darauf stellte sich heraus, dass sich dahinter ein Arbeitszimmer mit Zugang vom Salon des Schlosses befand. Ich spähte durch das Fenster und sah, dass in dem Raum eine Frau mittleren Alters einige Kisten packte.
Ich war zwar der Meinung, mich vorsichtig und lautlos dem Haus genähert zu haben, aber aufgrund meiner Übermüdung und Erschöpfung irrte ich wohl, denn plötzlich spürte ich einen harten Gegenstand, der sich kurz und schmerzhaft in meinen Rücken bohrte. Eine weibliche Stimme forderte mich auf, meine Hände zu heben und mich langsam umzudrehen. Ich kam der Aufforderung nach und legte dann, als es von mir verlangt wurde, vorsichtig meine Pistole ins Gras. Während der gesamten Zeit hielt mich eine etwa sechzigjährige zu allem entschlossen wirkende Frau, die eine grobe Männerjacke, Schal und eine Schirmmütze gegen die morgendliche Kühle trug, mit einem doppelläufigen Jagdgewehr in Schach. Ich war zu erschöpft, um zu protestieren oder um noch groß nachzudenken. Ohne dass sie etwas fragte, sprudelten die Einzelheiten meines Befehls und die Geschehnisse im Führerbunker nur so aus mir heraus.
Die ältere Frau schien von meiner Schilderung nicht im Geringsten überrascht und schenkte meiner Geschichte Glauben. Dabei konnte ich nicht einmal die Generalvollmacht vorweisen. Wie von Anfang an beabsichtigt, hatte ich sie sofort nach Verlassen des Bunkers weggeworfen.
Sie senkte jedenfalls ihr Gewehr und erklärte, dass ich Glück habe, sie hier noch anzutreffen, denn sie seien die letzten beiden Bewohnerinnen und würden in nur wenigen Stunden abgeholt werden. Sie wäre befugt, Päckchen und Brief entgegenzunehmen und weiterzuleiten.
Mit meinen Kräften am Ende, willigte ich sofort ein, froh, die Sachen endlich loszuwerden, und übergab ihr die Gegenstände. Sie steckte sie, ohne ihnen große Beachtung zu schenken, in ihre Jackentasche, wies auf meine Pistole im Gras und riet mir, sie wieder aufzunehmen. Anschließend nahm sie mich durch einen Seiteneingang mit in die Küche und gab mir wortlos etwas zu essen.
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