Julia wurde als Fotografin fester Bestandteil des Redaktionsteams und folgte Torben später an seine Uni nach. Während er Journalistik studierte, schrieb sie sich für Grafik und Design ein. Das Ende ihrer Beziehung kam mit keinem lauten Knall oder gar durch einen Einfluss von außen. Sie brach irgendwann einfach auseinander, vielleicht war es die frühe Bindung, die beide eingegangen waren, und der Wunsch beider, noch etwas anderes erleben zu wollen, von dem sie aber eigentlich gar nicht wussten, was es sein könnte. Torben – immer verrückt nach interessanten Geschichten und neuen Grenzerfahrungen, die er beispielsweise als Anhalter trampend im Ausland erlebte – gab mit seinem unruhigen Geist den endgültigen Ausschlag für die Trennung und verließ Julia noch vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag – eine Entscheidung, an die er sich in sentimentalen Momenten, wenn Freunde und Bekannte sesshaft wurden oder Kinder bekamen und er sich dadurch einsam und allein fühlte, manchmal wehmütig erinnerte.
Julia und er hatten natürlich wie viele andere Paare vor ihnen die Absicht, befreundet zu bleiben. Sie verloren sich aber schon nach wenigen Monaten aus den Augen. Jahre später las er eher zufällig ihren Namen unter einigen Fotoaufnahmen über moderne Architektur. Offensichtlich hatte sie doch noch ihre frühere Passion zum Beruf gemacht.
Da seine Familie Julia so gemocht hatte, verzichtete er danach meistens darauf, seine neuen Eroberungen vorzustellen, wohl auch deshalb, weil er bei keiner von ihnen das Gefühl hatte, dass sie die Frau sein könnte, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte, obwohl nicht wenige genau diese Hoffnung hegten.
So kam es, dass ihm bei den Nachfragen seiner Großmutter, die augenscheinlich stark auf Urenkel hoffte, regelmäßig sein Großvater zu Hilfe eilte und für ihn antwortete: „Kaum schläft man zwei, drei Mal mit einer Frau, schon sagen die Leute, man hat was mit ihr! Stimmt’s, Torben?“ Die Reaktion seiner Großmutter war immer die gleiche und ähnelte einer Moralpredigt für seinen Großvater, der diese stoisch und ihm zuzwinkernd über sich ergehen ließ. Torben jedoch war froh, auf diese Weise vom ursprünglichen Thema abzulenken und um eine Antwort herumzukommen.
Er musste unweigerlich schmunzeln, als er an jene Momente dachte, und urplötzlich wurde ihm bewusst, wie viel ihm beide über all die Jahre hinweg bedeutet hatten und wie sehr sie ihm fehlten.
Er stand auf und ging zu dem großen Bücherregal, das sein Großvater einst selbst gebaut hatte, und strich über die Buchrücken, um etwas vom Geist seiner Großeltern, die Bücher so sehr geliebt hatten, aufzunehmen. Sie hatten sich sogar erst in den Neunzigerjahren einen Fernseher angeschafft, als ihre Augen langsam schlechter wurden. Selbst dann vertraten sie noch immer die Meinung, dass das Fernsehen einen negativen Einfluss auf die Fantasie der Menschen hätte. Letztendlich war es sicherlich seinen Großeltern zu verdanken, dass er die Liebe zum Schreiben für sich entdeckt hatte.
Er genoss einen recht guten Ruf als Reisejournalist. Nicht, dass er es nicht mit investigativem Journalismus oder einer festen Anstellung in einer Redaktion versucht hätte, aber es war ihm schon immer schwergefallen, sich anderen unterzuordnen.
Die letzte diesbezügliche Erfahrung lag jetzt vier Jahre zurück. Er hatte damals acht Wochen bei den deutschen Truppen in Afghanistan verbracht und seine Erlebnisse als Leitartikel niedergeschrieben. Allerdings gefiel es seinem Redakteur nach Lektüre des Entwurfs überhaupt nicht, dass deutsche Soldaten mit Langeweile, Pornos, Computerspielen sowie Alkohol- und Gewaltexzessen die Freiheit am Hindukusch verteidigten. Als ein Koautor retten sollte, was noch zu retten war, entschloss sich Torben kurzerhand, das Gastspiel Festanstellung zu beenden, und nahm das Angebot eines anderen Verlagshauses für die mehrmonatige Berichterstattung über eine Südamerika-Rundreise einer Gruppe von Naturforschern an.
Torben musste sich eingestehen, dass das Bücherregal in seiner Erinnerung irgendwie eindrucksvoller und majestätischer gewesen war als jetzt, da er davorstand. Eigentlich waren es nur einige massive Bretter, die sein Großvater dunkel gestrichen und mehr schlecht als recht zusammengezimmert hatte, jedoch mit einem solch großen Erfolg, dass das Regal sechzig Jahre und länger seinen Dienst getan und alle Renovierungen und Veränderungen der Einrichtung durch seine Großmutter überstanden hatte. Als Junge hatte Torben anhand der unterschiedlich hohen Regalböden regelmäßig überprüft, ob er wieder ein Stück gewachsen war. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, ob es ihm je ohne Hilfsmittel gelungen war, das oberste Regal zu erreichen. Heute, mit einem Meter achtzig, würde es ihm aber zweifellos gelingen und er beschloss, sich anstelle der Fotoalben erst einmal den Büchern zuzuwenden, die seine Großeltern im Laufe der Zeit zusammengetragen hatten.
Wenige Augenblicke später hielt er die gesammelten Werke Goethes in zehn Bänden in den Händen, gefolgt von einer Fassung des „Bürgerlichen Gesetzbuches“ aus dem Jahre 1937, nebst „Jugendwohlfahrtsgesetz“, wie sein Großvater einst betont hatte, einem Roman aus dem Jahre 1913 von Karl Strecker namens „Lebensstudenten“ und der 1940 veröffentlichen „Königsbotschaft“ von Carl Schünemann. Er musste sich eingestehen, dass er von den beiden letzten Autoren noch nie etwas gelesen hatte, und entschied, es auch weiterhin dabei zu belassen.
Während er sich noch Gedanken darüber machte, ob seine Großeltern absichtlich auf eine systematische Ordnung ihrer Bücher verzichtet hatten, bemerkte er, dass hinter den gerade entnommenen Bänden ein weiteres, in rotes Leder gebundenes, größeres Buch zum Vorschein kam, das er vorher noch nie in dem Regal bemerkt hatte. Als er sah, dass auf dessen vorderem Deckel ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis prangte, wurde ihm klar, dass der Platz in der zweiten Reihe sicherlich nicht zufällig gewählt worden war. Nicht jeder x-beliebige Besucher sollte offensichtlich von seiner Existenz erfahren.
Der Buchrücken verkündete in altdeutscher Schrift, dass es sich bei dem Werk um die Grundlage der Ideologie des Dritten Reiches handelte: „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Der Fund erstaunte ihn, da seine Großeltern ihm gegenüber nie auch nur ansatzweise Sympathien für dieses noch am eigenen Leib erfahrene Kapitel der deutschen Geschichte geäußert hatten. Torben ergriff das Buch, das in einem erstaunlich guten Zustand und ohne jede Gebrauchsspuren war, ließ sich in einen großen alten Ohrensessel sinken und schlug es auf.
Nichts ahnend blickte er plötzlich in die Augen des selbst ernannten Führers aller Deutschen, dessen schwarz-weiße Porträtaufnahme die Mitte der ersten linken Seite einnahm. Die rechte Seite verkündete, dass es sich um eine ungekürzte Ausgabe handelte, die beide Bände, „Eine Abrechnung“ und „Die nationalsozialistische Bewegung“, vereinte. Aber das nahm Torben schon nur noch im Unterbewusstsein war, denn eine handschriftliche Widmung unter der Fotografie schlug ihn völlig in ihren Bann.
Der Eintrag – in blauer Tinte und leicht krakeliger Handschrift, die jeden Grafologen sofort zu diversen Deutungen verleitet hätte – lautete: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Adolf Hitler, Berlin d. 30.04.1945.“
Etwas weiter darunter stand, augenscheinlich mit noch unruhigerer Hand geschrieben, aber erkennbar vom gleichen Verfasser: „Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann!“
Selbst Torben, dessen Wissen über das Dritte Reich nicht über seine schon erheblich zurückliegende Schulbildung hinausging, wusste, dass der 30. April 1945 als offizieller Todestag Adolf Hitlers genannt wurde. Sollte die Widmung tatsächlich an diesem Tag gefertigt worden sein, hätte der Führer sie also unmittelbar vor seinem Tod geschrieben. War die Widmung echt? Könnte es sein, dass seine Großmutter oder wohl eher sein Großvater als Wehrmachtssoldat das Buch tatsächlich vom Führer des Tausendjährigen Reiches erhalten hatte? Aber wofür? Oder gehörte es jemand anderem und seine Großeltern waren nur zufällig in den Besitz des Buches gelangt? Und was bedeutete die geheimnisvolle Widmung? Fragen über Fragen, die sich zweifelsohne nicht nur ein Journalist bei einem solchen Fund stellen musste.
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