Während des Essens schlief ich noch am Tisch sitzend voller Erschöpfung ein und wachte erst bei einsetzender Dämmerung wieder auf. Von den beiden Frauen fehlte jede Spur. Ich vermutete, dass sie zwischenzeitlich abgeholt worden waren. In der Hoffnung, richtig gehandelt zu haben, und dennoch voller Zweifel, ob meine Eltern noch am Leben waren, versuchte ich danach, mich zu Verwandten nach Eberswalde durchzuschlagen, weil mir eine Rückkehr nach Berlin zu gefährlich erschien.
Drei Tage später wurde ich aber von einer russischen Patrouille aufgespürt und gefangen genommen. Ich war weder Angehöriger der Waffen-SS, noch gab es anscheinend schriftliche Unterlagen zu meinem Aufenthalt im Führerbunker. Mein Soldbuch wies mich als einfachen Rottenführer aus, sodass ich vergleichsweise fair behandelt wurde. Zwar habe ich auch zwei Jahre in russischer Gefangenschaft in Irkutsk verbracht, aber das konnte ich ertragen.
Übrigens haben meine Eltern den Krieg überlebt und hatten dabei mehr Glück als Bormann, der einige Stunden nach meinem Aufbruch mit einigen anderen Insassen versucht hat, sich aus dem Führerbunker freizukämpfen und nicht sehr weit kam. Noch bevor ich das Päckchen und den Brief übergeben hatte, soll er sich in den Morgenstunden des 2. Mai 1945 mit einer Giftkapsel umgebracht haben.
Verrückt, nicht wahr, vermutlich wusste niemand, welchen Auftrag mir Bormann gegeben hatte. Hätte ich versagt, wäre vermutlich rein gar nichts mit meinen Eltern geschehen.“
Reiher blickte grimmig und seufzte. Das Erzählen hatte ihn körperlich und das Erinnern emotional erschöpft.
„Haben Sie das Paket oder den Brief geöffnet?“, fragte Torben leise.
„Nein, meine Angst war viel zu groß. Ich habe natürlich oft über die Inhalte der Sendungen nachgedacht. Der Brief? Vermutlich Befehle oder Anweisungen für Truppenbewegungen. Etwas in dieser Richtung. Das Päckchen? Ich weiß es nicht, vielleicht wie bei Ihrem Großvater ein letztes Geschenk Hitlers an einige Getreue. – Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin durch das Erzählen sehr müde geworden, es war anstrengender, als ich dachte. Würden Sie mich jetzt bitte zurückfahren? Wir können ja ein anderes Mal weitersprechen“, bat Reiher.
Torben konnte seine Bitte verstehen. Er sah, wie dringend der alte Mann seine Ruhe brauchte, trotzdem startete er noch einen letzten Versuch, etwas mehr zu erfahren: „Ich kam eigentlich her, um etwas über meinen Großvater zu hören. Sie haben mir jetzt sehr viel über sich erzählt. Was glauben Sie, welchen Auftrag hatte er?“
„Es ist doch offensichtlich, mein Junge“, antwortete der Veteran müde. „So wie mir Bormann einen Befehl erteilte, gab Hitler anscheinend auch ihrem Großvater eine Order. Nur war Hitler so großzügig, Hans gleich ein Geschenk für seine Dienste – in Form seines Buches – zu überreichen. In den Augen des Führers sollte sein Werk durch die persönliche Widmung wohl wie eine Vollmacht für Ihren Großvater wirken, ihn bei der Erfüllung seiner Aufgabe unterstützen.
Hans und ich waren beide niedere Wehrmachtssoldaten ohne besondere Verbindungen zu hohen Offizieren, denen Hitler und sein engerer Stab zum damaligen Zeitpunkt sowieso nicht mehr trauten. Aber vor allem waren wir nicht wichtig, sondern das ganze Gegenteil, nämlich entbehrlich! Wir bekamen zivile Kleidung, um uns ungehinderter oder möglichst unerkannt bewegen zu können. Wenigstens glaubten sie das. Letztendlich übernahmen wir aber Himmelsfahrtskommandos. Niemand konnte wissen, ob wir es schaffen und unsere Ziele erreichen würden. Und trotzdem, so unwahrscheinlich es auch war, ist es sogar uns beiden gelungen, am Leben zu bleiben.
Ich habe vermutlich Befehle nach Wandlitz gebracht, die Göring oder Himmler zugehen sollten. Ihr Großvater hatte vielleicht die Aufgabe, Instruktionen oder Briefe anderen Funktionären zuzustellen. Das ist das ganze Geheimnis. Vielleicht gab es Dutzende von uns. Als ich Hans damals sah, war er in Begleitung eines Jungen. Vielleicht musste auch er einen ähnlichen Auftrag ausführen. Die einzige Frage, die ich mir später immer gestellt habe, betraf die Beweggründe Ihres Großvaters, sein Leben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Mich haben sie mit dem Leben meiner Eltern erpresst. Aber Ihr Großvater hatte keine Verwandten mehr in Berlin.
Nun ja, wir konnten heute Nachmittag leider nicht jedes Geheimnis lüften. Also, mein Junge, machen Sie sich keine weiteren Gedanken! Behalten Sie Ihren Großvater so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten. Mehr steckt nicht dahinter!“
„Vielleicht haben Sie ja recht!“, entgegnete Torben, der unwillkürlich an die Widmung denken musste: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann.“
„Natürlich habe ich recht, ich sage es nochmals, wir waren entbehrliche, kleine und dumme Handlanger, mehr nicht!“, krächzte Reiher, der die Botschaft ja nicht kannte, und bekam einen Hustenanfall, der noch andauerte, als Torben ihn bereits wieder im Wohnheim einem Pfleger übergab.
Er hatte genug gehört und wollte ihn nicht länger quälen. Er bat den Betreuer, dem alten Mann später, wenn es ihm wieder besser ginge, nochmals seinen Dank für das Gespräch auszurichten, und hinterließ eine Visitenkarte mit seiner Adresse und Telefonnummer, falls dem Veteranen noch etwas einfallen sollte.
Aufgewühlt von den Erzählungen Reihers, verbrachte Torben den späten Nachmittag und den Abend damit, sein Wissen über das Dritte Reich und – wie er es für sich selbst nannte – den Größenwahn der Nazis aufzufrischen. Relativ schnell wurde ihm klar, dass das Internet als Quelle für die für ihn so wichtigen letzten Kriegstage nicht ausreichend war, und er beschloss, einen Spezialisten zu konsultieren. Als geeignetster Kandidat erschien ihm Prof. Dr. George Meinert, der Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Nationalsozialismus am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Dieser galt – schenkte man den Veröffentlichungen Glauben – auf internationalem Parkett als Koryphäe. Einige Kollegen kritisierten jedoch – so musste er in den Artikeln seiner Berufsgenossen lesen – dessen dogmatische Haltung bei der Interpretation von Forschungsergebnissen. Mit sehr deutlichen Worten warfen sie Meinert vor, dass er keine anderen Meinungen zulasse. Sie bezeichneten ihn als beratungsresistent, exzentrisch und introvertiert. Für Torben, der immer schon ein Faible für Dissidenten und Querdenker hatte, wurde er jedoch dadurch nur sympathischer und er beschloss, den Professor in den nächsten Tagen aufzusuchen.
Bei Professor Meinert einen Termin zu bekommen, gestaltete sich schwieriger als gedacht, da ihm bei einem Telefonat mit dem zuständigen Institutssekretariat eine angenehme weibliche Stimme mitteilte, dass der Herr Professor seit einigen Wochen bis auf Weiteres vom Lehrauftrag freigestellt sei.
Torben, galant und charmant wie immer, wenn er von wildfremden Menschen Informationen brauchte, wusste zwanzig Minuten später, dass es sich bei der sympathischen Stimme um eine studentische Hilfskraft im achten Semester namens Melody handelte, die auch Vorlesungen bei Professor Meinert besucht hatte. Sie teilte Torben mit, dass sich der Professor institutsintern mit einigen Kollegen und Vorgesetzten überworfen habe. Für seinen Lehrstuhl werde derzeit ein Nachfolger gesucht und sein Büro sei bereits vollständig geräumt. Auf Nachfrage konnte sie zwar keine private Erreichbarkeit des Professors nennen, gab aber an, gehört zu haben, er würde – um sich etwas die Zeit zu vertreiben – am Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins kleine Führungen für Touristen übernehmen.
Torben bedankte sich bei Melody und erhielt als Gegenleistung für sein einnehmendes Wesen ihre Handynummer, natürlich mit dem Hinweis, dass sie sonst nicht so freigiebig sei, sie ihm aber – sollte er noch Fragen haben – gern behilflich sein wolle. Und da Melody nicht nur ein außergewöhnlicher Name war, sondern sie wirklich ganz sympathisch klang, notierte sich Torben tatsächlich ihre Nummer und heftete sie an seine Pinnwand. Vielleicht würde sich ja irgendwann eine Gelegenheit ergeben, sie persönlich kennenzulernen und festzustellen, ob ihr Äußeres dem Klang ihres Namens entsprach.
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