Torben erinnerte sich dank alter Recherchen daran, dass man bei einer behördlich zugelassenen und registrierten Firma angestellt sein musste, um als Guide in Berlin arbeiten zu können. Durch diese Information wusste er eine Stunde und sieben Telefonate bei Sightseeing-Agenturen später nicht nur, dass der Professor tatsächlich kleine Stadtrundgänge anbot, er hatte sogar für den nächsten Tag eine individuelle Führung bei ihm buchen können.
Um elf Uhr morgens lernte Torben den Professor dann auch tatsächlich kennen.
Bekanntermaßen gibt es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Der Professor beherzigte mit seinem Auftreten offensichtlich diesen Grundsatz. Statt eines älteren, zerzausten Gelehrten mit Nickelbrille und durchgewetzten Ärmeln sah sich Torben einem mittelgroßen, braun gebrannten und sehr gepflegten Mann reiferen Alters gegenüber, der augenscheinlich – so verrieten es Bauchansatz und leicht gerötete Nase – den Herbst seines Lebens in vollen Zügen genoss.
Der Professor trug einen hellen Leinenanzug mit weißem Hemd samt passendem beigefarbenen Halstuch. Ein weißer Strohhut und ein Spazierstock vervollständigten das Ensemble. In seiner ganzen Erscheinung erinnerte er Torben eher an den jungen Hemingway als an einen steifen Akademiker.
Das Bemerkenswerteste an seinem Auftritt bestand jedoch darin, dass er in Begleitung eines braunen Chiwawas erschien, den er an einer Leine führte. Torben musste schmunzeln, als er sah, wie vorsichtig und behutsam der kräftige Mann mit dem winzigen Hund umging, anscheinend sogar mit ihm redete. Der Professor war Torben vom ersten Augenblick an sympathisch.
Insgeheim hatte er gefürchtet, Professor Meinert aufgrund des Verlustes seines Lehrstuhls in niedergeschlagener Stimmung vorzufinden. Als sie sich aber gegenüberstanden, wurde er vom blanken Gegenteil überrascht. Der Professor begrüßte ihn mit einem freundlichen und offenen Lächeln. „Ah, lassen Sie mich raten, Sie müssen Herr Trebesius sein. Richtig? Ein wirklich außergewöhnlicher Name, vielleicht können Sie mir ja später etwas über seinen Ursprung erzählen. Wie ich höre, zeichnen Sie sich durch einen erlesenen Geschmack aus, weil Sie darauf bestanden haben, dass ich Ihre Führung übernehmen soll. Mir wurde nämlich gesagt, Sie hätten ausdrücklich nach mir verlangt.“ Der Professor kicherte kurz, ehe er munter weiterplapperte. „Oder wollen Sie mir etwas verkaufen oder mich gar ausrauben? Nein? Ein kleiner Scherz! Na ja, wie dem auch sei, wie Sie sicherlich schon erraten haben, bin ich Professor Meinert und dies ist Gertrud, sozusagen meine bessere Hälfte, die mich seit einigen Jahren begleitet.“
Als der kleine Hund seinen Namen hörte, wedelte er freudig mit dem Schwanz. Der Professor ergänzte dessen ungeachtet sofort: „Ich wünsche Ihnen jedenfalls einen wunderschönen guten Morgen! Was möchten Sie gerne besichtigen? Wir könnten uns die Ausstellung ‚Topographie des Terrors‘ ansehen oder wir wandeln durch die Ministergärten und ich erzähle Ihnen, wie es 1945 hier aussah. Oder wollen Sie sich tatsächlich das Holocaust-Mahnmal ansehen? Hoffentlich verlangen Sie dann aber nicht, dass ich etwas schaffe, was bisher keinem gelungen ist, nämlich eine Interpretation für dieses Bauwerk zu finden. Aber nun reden Sie doch endlich!“
Torben, der zwischenzeitlich nur kurz genickt hatte, als es um die Bestätigung seiner Person ging, nutzte die kurze Unterbrechung im Redeschwall des Professors, um sich erst einmal selbst vorzustellen. „Guten Morgen, Herr Professor, wenn Sie möchten, können Sie mich gerne Torben nennen.“
Die Reaktion darauf kam rasch und war überaus freundlich. „Gut, gut, das mache ich gerne. Mein Vorname lautet übrigens George. Und ja, eh Sie fragen, der Name ist recht ungewöhnlich für jemanden, der gerade noch im Berlin des Nationalsozialismus geboren wurde. Aber was soll ich sagen, meine Mutter war seit der Verfilmung des Buches ‚Die Reise nach Tilsit‘ von Hermann Sudermann, die 1927 in die Kinos kam, in den amerikanischen Schauspieler George O’Brien vernarrt. Und so heiße ich eben nicht Georg, sondern George.“
„Es freut mich ungemein, Sie kennenzulernen, George“, wurde er von Torben unterbrochen, der nicht wollte, dass der Professor, der offenkundig das Dozieren vor Studenten gewohnt war, wieder in einen Monolog verfiel. „Ich bin mir sicher, dass Sie ein hervorragender Stadtführer sind. Vielleicht können wir irgendwann auch einmal gemeinsam eine Führung machen, aber heute bin ich hier, um Ihnen etwas zu zeigen und Ihre Meinung dazu zu hören.“
Der Professor, offenkundig von diesem Anliegen überrascht, stutzte kurz und antwortete: „Dies ist normalerweise nicht das übliche Prozedere. Als professioneller Stadtführer müsste ich jetzt sicherlich entrüstet ablehnen, aber als Gelegenheitsarbeiter, der ich bin …“ Er zuckte mit den Schultern. „Also gut, Sie haben mich neugierig gemacht. Um was handelt es sich denn? Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mein Wissen über das Dritte Reich benötigen?“
Torben hatte zwischenzeitlich das Buch aus seiner Umhängetasche geholt und reichte es dem Professor. „Damit liegen Sie goldrichtig! Ich hoffe, Sie können mir hiermit weiterhelfen?“
Der Professor rückte seine Brille zurecht, ließ die Schlaufe der Hundeleine über das Handgelenk auf den Unterarm gleiten und nahm das Buch entgegen. „Oha, ‚Mein Kampf‘ von Adolf Hitler. Sie wissen schon, dass hier nicht der richtige Ort ist, dieses Buch so offen zu zeigen.“ Er blickte ihn über den Rand seiner Brille an. „Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen“, forderte er Torben auf. „Vielleicht durch die Steinquader des Mahnmals? Dort sieht wenigstens nicht jeder, worin wir beide schmökern.“
Torben nickte und beide näherten sich den ersten Stelen des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“.
„Das Buch ist in erstaunlich gutem Zustand. Aber was wollten …“ Die Stimme des Professors erstarb, als er die erste Seite aufgeschlagen hatte und die Widmung las. Er hielt in seinen Bewegungen inne, sodass Torben und Gertrud auch stehen bleiben mussten. Die kleine Hundedame nutzte sofort die Gelegenheit, um am nächsten Steinquader zu schnüffeln,
„Sehr interessant. Ist das authentisch? Wurde das Buch wirklich an seinem Todestag signiert?“
„Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir vielleicht sagen“, antwortete Torben.
„Ganz so einfach ist das nicht, mein junger Freund! Wo haben Sie das Buch her? Und vor allem: Wissen Sie, wer es vom Führer bekommen hat? Der Kreis der Menschen, die ihn in seinen letzten Stunden sahen, ist recht überschaubar. Einer von ihnen könnte es jedoch tatsächlich erhalten haben, denn die Handschrift ähnelt schon stark der des Führers. In den letzten Wochen vor seinem Tod sollen in Hitlers Armen Lähmungserscheinungen aufgetreten sein. Er war ein kranker Mann und das Schreiben fiel ihm zunehmend schwer. Ich bin aber natürlich bei Weitem kein Gutachter.“
Torben holte kurz Luft und begann zu erzählen: „Das Buch stammt aus dem Nachlass meines verstorbenen Großvaters. Ich vermute, dass er es persönlich vom Führer unmittelbar vor dessen Suizid empfangen hat.“
In den folgenden Minuten setzte er den Professor darüber in Kenntnis, was er von Konrad Reiher über seinen Großvater und deren beider Anwesenheit im Führerbunker erfahren hatte. Erst als er endete, registrierte er, dass sein Zuhörer ihn dieses Mal nicht unterbrochen hatte. Vielmehr glänzten dessen Augen regelrecht und fast erweckte es den Eindruck, als ob der Professor plötzlich frischer und jugendlicher aussah.
Als er sicher sein konnte, dass Torben seine Ausführungen abgeschlossen hatte, erwiderte Professor Meinert: „Mein lieber junger Freund, ich glaube, das ist der Beginn einer wundervollen Freundschaft!“ Er lachte und legte seine freie Hand auf Torbens Arm. „Ihre Geschichte und Ihre Nachforschungen sind höchst interessant. Sie eröffnen einen völlig neuen Blick auf die letzten Tage des Tausendjährigen Reiches. Sie sind von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Ich bin sehr froh, dass Sie den Weg ausgerechnet zu mir gefunden haben. Sie kommen allerdings“ – der Professor seufzte und ließ Torben los – „zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt zu mir. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich meinen Lehrstuhl abgegeben und mich sozusagen ins Privatleben zurückgezogen habe.“ Der grimmige Blick des Professors verriet, dass dieser Schritt nicht freiwillig erfolgte.
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