Beobachten, berichten, aber auf was habe ich denn überhaupt zu achten? Bahlow nahm die Mahlzeiten weiterhin in der Kabine ein. Er fühlte sich zunehmend wie ein Schauspieler, der sich ohne Textbuch auf eine schwierige Rolle vorbereiten soll. Nachts träumte er von gewaltigen Urwesen, die sich in seichten Küstengewässern in Fetzen rissen; bei einem Kostümfest in der Messe hatte er einen kurzen Auftritt in Tropenmontur (als er bemerkte, dass nicht nur er auf diese Idee gekommen war, zog er sich in die Kajüte zurück); ansonsten verlief die Seereise ohne nennenswerte Vorkommnisse, es sei denn, man wertete die stetige Zunahme der Außentemperatur als Besonderheit. Unter die Rubrik Vermischtes wäre vielleicht aufzunehmen, dass sich Bahlows Äquatortaufe wegen der rüden Zurschaustellung seemännischer Derbheit als nicht enden wollender Alptraum gestaltete, dass das mörderische Klima des Roten Meeres ihn zweieinhalb Tage lang mit leichtem Fieber ans Bett fesselte, und dass ihm, als das Fieber endlich nachließ, auffiel, dass er nicht wusste, wem er überhaupt Bericht erstatten sollte. Der Zimmernachbar hatte quietschenden Damenbesuch oder einen Herzanfall, ab Dar es Salaam begann Bahlow mit der Chinin-Prophylaxe, und schon ratterte die Ankerkette von der Winde: Dicke Manntaue verbanden das Schiff mit dem afrikanischen Festland.
Drei kichernde Stewarts trugen das Gepäck an Deck, beteuerten, ihm auch weiterhin zu Diensten zu sein, wie komme er denn sonst an Land – und lösten sich in Luft auf wie Flaschengeister. Minutenlang stand Bahlow inmitten seiner Habseligkeiten. Er schwitzte. Unter dem rechten Arm klemmte der lange Stab eines Fangnetzes. Schließlich entschied er sich dafür, erst die sperrige Holzkiste an Land zu bringen, welche unentbehrliche Dinge wie Gläser, Präparierplatten, den zerlegten Lichtselbstfänger und Flaschen mit Essigäther enthielt. Dann den Seesack und die Reisetasche. Zuletzt die Hutschachtel (Tropenhelm!) und die Rolle feinsten Maschendrahtes.
«Zu viel Gepäck?», scherzte es hinter seinem Rücken. Die Stimme erkannte Bahlow auf Anhieb! Sie gehörte zweifelsohne seinem musikalischen Kabinennachbarn, der sich ungeniert an Bahlows Hilflosigkeit weidete. Der schafsgesichtige Herr stellte sich dicht neben ihn und riss einige flaue Witzchen über gewisse Leute, die ihren ganzen Hausrat mitnehmen, wenn sie verreisen.
«Ich bin Entomologe», entschuldigte sich Bahlow.
«Na, dann viel Spaß mit Ihren Käfern!», verabschiedete sich der andere, und Bahlow sah nicht ohne Neid, wie triumphierend er dabei sein kleines Köfferchen schwenkte. Licht. Grell. Die Eindrücke verschmolzen zu einem Flimmern. Jenseits der glitzernden Wellengipfel verschwand der Witzbold im Menschengedränge des Kais. Bahlow ging in die Hocke, umfasste die Kiste mit beiden Armen, richtete sich ächzend auf. Nach der langen Schiffsreise schien der rissige Boden zu schwanken. Die Kiste senkte sich auf den atmenden Lehm, er sah schlanke, hochgewachsene Massai in rotbraunen Baumwolltüchern, rötlich gefärbte Zöpfe, das Haar quer von Ohr zu Ohr gescheitelt, vorne hing eine Strähne in die Stirn und klemmte unter einem Band aus Kaurimuscheln. Bahlow hatte keine Zeit, sich völkerkundlichen Betrachtungen hinzugeben, stürzte das Fallreep wieder hinauf, um den Seesack und die Tasche zu holen. Am liebsten wäre er jedoch zurück in die Kabine geschlichen, um dort ein Nickerchen zu machen, hätte sich gerne in den Eingeweiden des Schiffes versteckt, Tage, Wochen, für immer, er griff den Seesack, sah zum Ufer hinüber: Zwei junge Burschen machten sich an seiner Kiste zu schaffen.
«Heh!», schrie er und taumelte an Land. «Heh!»
Die Burschen hielten inne, sahen ihn ausdruckslos an. Bahlow fuchtelte mit dem Fangnetz vor ihren Gesichtern herum. Ungerührt hoben die Burschen die Kiste an. «Heh! Das ist meine Kiste!»
«Das geht schon in Ordnung, Doktor Bahlow.»
Bilderbeck stellte sich vor und gab Anweisungen in Kisuaheli, woraufhin die Boys die Kiste sorgsam absetzten und davoneilten, um sich Bahlows restlichem Gepäck anzunehmen. Bilderbeck grinste den Entomologen an – solange, bis dieser sich unbehaglich fühlte. «Heiß hier», bemerkte Bahlow. Bilderbeck grinste ins Leere. «Gottseidank weht eine leichte Brise», meinte Bahlow.
«Eine leichte Brise, jaja, gewiss!» Bilderbeck strich sich sandfarbenes, fettiges Haar aus der braun gebrannten Stirn. «Gottseidank! Brise. Da haben Sie recht. So! Das wäre dann wohl Ihr gesamtes Gepäck!» Einige Worte auf Kisuaheli an die Träger, dann vertraulich zu Bahlow: «Sie haben den Halleyschen Kometen um eine knappe Woche verpasst. Er hing vom 25. April bis zum 26. Mai über den Palmen. Ein solches Schauspiel! Sie ahnen es nicht! Er wurde mit jedem Tag größer.» Bilderbeck wiegte den Kopf, als könnte er es noch immer nicht fassen, den Himmelskörper mit eigenen Augen erblickt zu haben. «Am 19. Mai nahm er fast zwei Drittel des Himmels ein. Wie ein gigantischer Scheinwerfer! Sein Schweif erstreckte sich über unseren Zenit. Das Gouvernement hat durch seine Bezirksämter, Akidate und Jumbenschaften die eingeborene Bevölkerung gewarnt, dass keine Hungersnöte oder ähnliches damit verbunden seien, aber dennoch …» Der Boden schlingerte, schwankte. Bisweilen warf Bahlow einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihnen die Boys tatsächlich mit dem Gepäck folgten und sich damit nicht ins dichte Gebüsch am Straßenrand schlugen. Strandkasuarinen und Palmen überschatteten die breiten Straßen Lindis, gelegentlich erhellte das weiße Leuchten eines Hauses im Kolonialbaustil das satte Grün wie ein jäher Magnesiumblitz. Bilderbeck sei Ägyptologe, hieß es in Kuiders Dossier erstaunlich kurz angebunden, habe ab 1903 am Wörterbuch der ägyptischen Sprache mitgearbeitet, 1905 Examen Rigorosum, 1906 Dissertation, ab 1909 Außenagent der Firma Staudinger & Bang-Haas in Lindi. Es verwunderte Bahlow kaum, dass die Insektenhandlung einen Ägyptologen für sich arbeiten ließ. Vermutlich entzifferte er die Hieroglyphen auf Schmetterlingsflügeln. Bahlow wollte die spaßhafte Bemerkung gerade anbringen, denn Bilderbecks unglaubwürdiger Bericht über den Halleyschen Kometen hatte sich längst in der schwarzen Unendlichkeit des Weltenraumes verflüchtigt, und sie gingen schweigend nebeneinander einher, doch da deutete der Ägyptologe mit dem Sjambok auf ein Gebäude, das wie die Kreuzung zwischen einer Festung und einem maurischen Palast aussah. «Das Bezirksamt. Ich bedauere, Ihnen nicht mehr von Lindi zeigen zu können, aber wir sollten so wenig Zeit wie möglich auf den Straßen verbringen. Gerüchten zufolge, ach! Ich möchte Sie nicht beunruhigen.»
«Sie tun es aber justament.»
«Also gut. Es sind einige Fälle von Pest aufgetreten.»
«Pest?», lachte Bahlow ungläubig.
«Jaja», sagte Bilderbeck mit einem schiefen Lächeln. «Aber sie schlachten die Ratten ab. Schlagen sie mit Knüppeln und Holzschuhen tot. Sie kriegen das natürlich in den Griff. Erst drei Tote, und wir haben die drei bereits isoliert, als deren Fieber stieg. Im Inderviertel natürlich.»
«Und Sie meinen …?»
«Ungefährlich. Kein Grund zur Besorgnis!»
«Die Pest», murmelte Bahlow. «Die Pest in Lindi!»
Eigentlich zum Piepen, in welch krudes pseudoafrikanisches Geschehen man ihn hier versetzt hatte. Die Pest! Lächerlich! Pestkranke in Lindi! Ein Komet! Was für ein gewaltiger Mummenschanz! Und das ausgerechnet dann, wenn er ankam. Beiläufig schob man ihm diese Informationen zu. Ganz unauffällig, versteht sich. Schwarze Boys trugen das Gepäck. Selbstverständlich Palmen. Wessen Text war seine Welt geworden?
Das Schwanken der Sandstraße, das sich selbst bei dem mehrminütigen Fußmarsch nicht legte, brachte Bahlow auf bodenständigere Gedanken. In Kiel, erinnerte er sich, hatte er als Kind oft über die Matrosen auf Landgang gestaunt. Mit kraftvoll breitbeinigem Staksen waren sie vom Hafen gekommen. Er hatte damals vermutet, sie hätten sich diesen Gang angewöhnt, um auf einem schwankenden Schiffsdeck das Gleichgewicht wahren zu können. Aber nun begriff er, dass man so und nicht anders gehen musste, um nicht auf einem widerspenstigen Erdboden zu stürzen. Selbst die Dielen in Bilderbecks prachtvollem Haus bewegten sich unter den Sohlen!
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