«Ja. Gut. Gestern Nachmittag.» Mit gelindem Erstaunen musterte Bahlow Kuiders Halskette, an der ein kreisförmiges daumennagelgroßes Amulett aus rauchigem Silber baumelte: Ein Andreaskreuz schmiegte sich in einen Ring. Bahlows umherwandernde Tasse hatte auf der Tischplatte ebenfalls einen Ring hinterlassen, wässrig braun, gedankenverloren malte Bahlow mit dem Finger ein Kreuz in den Kaffeekreis, sieht wie das Amulett aus, lästig, wie Kuider seinen Blick zu fangen suchte, um ihn schließlich zu packen und festzuhalten. «Wie war die Reise, Doktor Bahlow?»
«Gut», antwortete dieser und fügte, um nicht unhöflich zu erscheinen, hinzu: «Etwas anstrengend.»
Kuider rieb die Hände gegeneinander. «Sie scheinen nicht zum Plaudern aufgelegt zu sein. Lassen wir uns also directement zum, sagen wir, offiziellen Teil des Treffens übergehen. Die Angelegenheit ist nicht ungefährlich. Unser erster Mann …» Der Kellner trat an den Tisch, und Kuider bedeutete ihm mit einer grausam beiläufigen Geste, nicht gestört werden zu wollen. «Wie unpassend! Wo war ich stehen geblieben?» Der Kellner zog sich ins schattige Innere des Cafés zurück.
«Sie sagten, es sei nicht ungefährlich», bemerkte Bahlow.
«In der Tat. Valdsky, unser erster Mann, ein Missionar, meldet sich seit vier Monaten nicht mehr. Es ist unwahrscheinlich, dass er noch am Leben ist, aber halten Sie die Augen offen. Ein Bild von Valdsky wurde Ihrem Dossier beigefügt.»
«Meinem Dossier?»
«Keine Sorge. Ich werde es Ihnen gleich aushändigen.»
«Was habe ich zu tun?»
Kuider lachte tonlos. «Sie sammeln Insekten für die Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas.»
«Nein, ich meine, was soll ich wirklich tun?»
«Insekten sammeln.» Wieder lachte Kuider. «Dafür werden Sie von der Firma bezahlt. Und weil Sie diesen Auftrag von uns bekommen haben und nicht von der Firma, bitten wir Sie, außerdem die Augen offen zu halten. Das ist, hoffe ich, nicht zu viel verlangt.»
«Und wenn ich nein sage?»
«Das werden Sie nicht wagen! Sie wissen das, und wir wissen das. Sie haben doch sicherlich geahnt, dass uns Ihre Vorliebe für das weibliche Geschlecht nicht verborgen geblieben ist – ansonsten hätten Sie unser Angebot wahrscheinlich ausgeschlagen. Oder sollte ich eher sagen …»
«Was habe ich zu tun?», fragte Bahlow kalt.
«Sie haben zu beobachten. Sie haben zu berichten.»
«Weiter nichts.»
«Das reicht uns vorerst.»
«Vorerst?»
«Ich darf Ihnen hier und heute nicht mehr verraten. Nur so viel: Wir halten es für überaus wichtig, dass Sie unvoreingenommen sind.»
«Unvoreingenommen?»
«Ja.» Hiermit schien das Thema für Kuider erschöpft zu sein. Er wandte sich ab, rief in perfektem Französisch nach dem Kellner. «Nehmen Sie auch einen Absinth, Doktor Bahlow?»
Dieser nickte zögerlich; Kuider bestellte zwei Absinth.
«Sie dürfen mir wirklich nicht mehr verraten?»
«Nein.» In amüsiertem Bedauern hob Kuider die Hände. «Ich weiß nicht, ob Sie das entschädigen wird, aber ich habe den Auftrag, Sie mit den Hintergründen der Expedition vertraut zu machen, der Sie sich in Kürze anzuschließen gedenken.» In der Nähe des Tendaguru-Berges, etwa drei bis fünf Tagesreisen von der Küste entfernt, war ein Ingenieur der Lindi-Schürfgesellschaft namens Sattler über einen gigantischen Knochen gestolpert, der quer über dem Pfad lag, der sich von Lindi aus ins Innenland schlängelt. Bei dem halb aus dem Erdboden herausgewitterten Stück handelte es sich um einen Beinknochen enormen Ausmaßes, und als der bekannte württembergische Geologe Professor Fraas zu Forschungszwecken in der Kolonie weilte, unterrichtete ihn Sattler bei einem Gläschen Portwein über diese Kuriosität. Fraas, ein Mann der Tat, zog am folgenden Tag mit zwanzig Trägern ins Landesinnere, wo er in einem wissenschaftlich höchst bedenklichen Gewaltakt einige prachtvolle Fundstücke ausgrub, um sie nach seiner Heimkehr der Stuttgarter Öffentlichkeit zu präsentieren. «Ein geschickter Schachzug, um die Gelder für die dringend notwendige wissenschaftliche Expedition zu organisieren. Ich lese Ihnen nun einen», Kuider blätterte in einem Notizbuch, «Auszug aus einem unveröffentlichten Manuskript vor, das uns Dr. Sproesser von der Schweizerbart’schen Verlagsbuchhandlung hat zukommen lassen. Ah, hier haben wir es! Es war eine nationale Ehrenpflicht, den Schatz, der im deutschen Boden Afrikas ruhte, mit allen Mitteln zu heben und für die wissenschaftliche Welt nutzbar zu machen. Das Berliner Geologisch-Paläontologische Universitäts-Institut und Museum unter der Direktion Herrn Geheimen Bergrats Professor Dr. Branca nahm sich der Sache an.» Bahlow bedeutete dem Kellner, ihm noch ein Gläschen des köstlichen Anislikörs zu bringen. «Ein Komitee unter dem Protektorat Sr. Hoheit des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg, Regenten von Braunschweig, erließ einen Aufruf, um die Mittel zur Ausrüstung und Entsendung einer Expedition zusammenzubringen und in erfreulich kurzer Zeit hatte der Opfersinn privater und korporativer Förderer der Wissenschaft die nötigen Geldmittel zur Verfügung gestellt. Im Ganzen dürften sich die Kosten auf 180.000 Mark belaufen haben, eine recht bescheidene Summe, wenn man – hier fehlt das Wörtchen ‹diese›! – etwa mit der gleichzeitig ins Werk gesetzten Südpolarexpedition vergleicht, für die 1 ½ Millionen gesammelt …»
Der Absinth nahm Bahlows Hand und führte ihn davon, seine Augen schwebten über dem Vieux Port, den kleinen Segelbooten, den wie Lanzen emporgereckten Masten, benutzten die bleichen Kalksteinhäuser als Stufen, hüpften den Hügel hinauf und sahen gemeinsam mit der Notre-Dame de la Garde über das Meer. Hier war Bahlow gestern schon einmal gewesen und hatte die Inselfestung Château d’If entdeckt, dessen feuchte Kerker Dumas mit seinem Grafen von Monte Christo unsterblich gemacht hatte. Mit diesem Gedanken glitten Bahlows Augen in die Höhe und zogen in einem großzügigen Bogen über dem glitzernden Meer davon. Aus weiter Ferne berichtete Kuider, die Expedition habe seit 1909 ihr Lager am rechten Ufer des Mbemkuru-Flusses aufgeschlagen, am Tendaguru-Berg. «Die Leitung obliegt Herrn Dr. Janensch, Kustos am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum. In unseren Augen ist er harmlos. Ihm geht ein Dr. Edwin Hennig zur Hand. Er ist Assistent an demselben Institute, ein Träumer, weitaus harmloser als Janensch.» Das wohltuende Sprudeln der Quelle erstarb. «Hören Sie mir überhaupt noch zu?»
Bahlow nickte hastig. Der Anisgeschmack des Absinths hatte seine Mundhöhle mit grünem Samt ausgekleidet. Seine Hände verschränkten sich auf dem Tisch zu einer aufmerksamen Wiege.
«Sie graben dort in Kronland, was bedeutet, dass die Eingeborenen auf dieser Fläche keine Felder bewirtschaften oder anlegen dürfen. Aber es lag freilich nicht an den Saurierfunden, dass das Gouvernement dieses Gebiet so überaus rasch und bereitwillig zum Kronland erklärte, so bedeutsam diese Funde für die Paläontologie auch sein mögen.»
«Ach», bemerkte Bahlow.
Kuider bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, ehe er die einschläfernde Rede erneut aufnahm. Verstand Bahlow richtig, ging es nun um irgendwelche einflussreichen Kreise, welche die Expedition ursprünglich hatten verhindern wollen, aber diese Kreise schienen dann doch nicht – doch nicht was? – die Expedition verhindert zu haben? «Denn», fuhr Kuider verständlicher als zuvor fort, «das hätte erst die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit geweckt. Lassen wir sie nur ihre Knochen ausgraben, dachte man sich.» Über diesen plötzlichen Wechsel ins Szenische musste Bahlow herzlich lachen. «Agent dieser Kreise», sprach Kuider ungerührt weiter, «ist Herr Besser von der Niederlassung der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft in Lindi. Ein äußerst gefährlicher Mann. Auf ihn müssen Sie besonders aufpassen.»
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