Nicht immer so besinnlich – Domplatz in Vilnius
Immer wieder sagt die Regierung zu, ihre Wirtschafts- und Energiepolitik zu ändern. Es geschieht aber wenig. Geschäftsleute beklagen „heiße Luft“. In einer Umfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer unter Unternehmen hält nur ein Fünftel das Regierungshandeln für zielführend und ausreichend; ein klarer und berechenbarer wirtschaftspolitischer Kurs fehle, die öffentliche Verwaltung sei ineffizient, Kriminalität und Korruption würden nur mangelhaft bekämpft.
Selten hat eine Regierung – 12 Kabinette gab es in 22 Jahren – lange genug Zeit, Grundlegendes zu ändern, Strukturreformen wie die Überschuldung der Sozialversicherung oder den Arbeitsmarkt anzugehen und umzusetzen. Anders als im bürgerlich-liberal geprägten Estland wechseln sich „linke“ und „rechte“, sozialdemokratische oder konservativ geführte Regierungen regelmäßig ab. In dem instabilen Parteiensystem gilt nur jeder Vierte als ein seiner Partei loyaler Stammwähler – in „alten Demokratien“ des Westens sind es drei Viertel. Dazwischen gab und gibt es häufiger als in den anderen beiden baltischen Ländern Populisten in der politischen Führung. Bei der Parlamentswahl Ende 2008 erhielt eine Partei von Unterhaltungskünstlern, Fernsehstars und anderen politisch Unerfahrenen auf Anhieb die meisten Stimmen und Abgeordnete in der Seimas, dem Parlament. Auch bei den beiden Parlamentswahlen davor erreichten Parteien eine hohe Stimmenzahl, die jeweils erst wenige Monate zuvor gegründet worden waren. Einmal brachte es ein Populist sogar zum Präsidenten – Rolandas Paksas wurde dann in einem Misstrauensvotum vom Parlament abgewählt, ein Novum in der Verfassungsgeschichte der EU-Länder. Verzweifelter Spaß in der Politik zu eigentlich ernster Zeit hat Tradition in Litauen. In den nachnapoleonischen Jahren, die Vilnius den nationalen, auch sprachlichen Aufbruch brachten, polnische Romantik und liberales Gedankengut (und das bislang letzte gemeinsame Vorgehen der drei verbundenen Völker der Litauer, Polen und Weißrussen), wurde die interessanteste Zeitung herausgegeben von der „Vereinigung der Tunichtgute“: Sie wollten „mit Lachen die verdorbenen Sitten bessern“.
Nicht nur der Populismus dient Daheimgebliebenen als Ventil für eine Flucht aus der Realität. Die vergangene Größe und das kulturelle Gedächtnis sind vielen Trost und Ansporn. Die Debatten um den Wiederaufbau des Palastes des Großfürsten erinnern an das Großfürstentum Litauen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert und an das Goldene Zeitalter bis 1430. Das gilt auch für zahllose Veranstaltungen zur Schlacht von Tannenberg, als Litauer und Polen vor genau 600 Jahren den Deutschen Orden zurückschlugen und so die staatliche Unabhängigkeit sicherten. Gleich drei Nationaltage hat Litauen – je einen für das Mittelalter, für die Litauische Republik der Zwischenkriegsjahre 1918 bis 1940, und für die Zeit nach 1991. Litauen kann sich historisch auf eine starke Identität stützen. Es will nach den von Moskau geprägten Jahren des Sozialistischen Internationalismus und der Unterdrückung eigener Kultur und Sprache diese pflegen.
Außenpolitisch ist Litauen eigenständiger und selbstbewusster als andere „kleine Länder“. Das zeigt sich im Bestreben innerhalb und außerhalb der EU, freiheitssuchende Länder weiter südlich bis hin nach Armenien und Georgien zu stützen, vor allem den großen Nachbarn Weißrussland. Angeregt wird das geostrategische Denken nicht zuletzt durch das benachbarte Kaliningrad (Königsberg). Russland kann seine Exklave mit Wirtschaftsgütern, Energie und Militär beliefern über litauisches Gebiet – Absprachen beider Länder werden ohne Drohgebärden eingehalten. Ihre Vereinbarung fiel leichter, weil Litauens Beziehungen zu Russland dank einer geringeren russischen Minderheit und einem entspannteren Umgang mit Russen und Weißrussen auf seinem Gebiet besser waren und sind als jene der baltischen Nachbarn zum Kreml. Dabei fiel der Verlust der früheren Provinz Litauen dem Sowjetreich weit schwerer als jener Estlands und Lettlands: Mit Litauen schwand der kürzeste Zugang zum eisfreien Meer.
Ein stabilisierendes Element waren fast immer die Präsidenten – der Sozialdemokrat Algirdas Brazauskas, der konservative Valdas Adamkus und nun die frühere EU-Kommissarin Dalia Grybauskaitė. Gegen sie sprach bei der Wahl eigentlich alles, was sonst in der litauischen Politik gilt – sie ist eine Frau, unverheiratet, nicht kirchennah, eigenwillig und willensstark. Dennoch gilt sie als einigendes Band – vor allem, weil sie „aufräumt“. Sie drängt Minister oder Beamte, die sie als korrupt oder unfähig empfindet, durch öffentliche Kritik aus dem Amt. Alleine in ihrem ersten Amtsjahr verloren 16 Behördenleiter nach ihrem „Hinweis“ ihr Amt. Litauer lieben die eiserne Frau mit dem schwarzen Gürtel im Karate auch dafür. So überraschte nicht, dass der amerikanische Senator und frühere Präsidentschaftskandidat John McCain nach einem Treffen mit ihr in Vilnius sagte, sie habe das Format, sich um das Amt des amerikanischen Präsidenten zu bewerben. Gesetze, die unter Aufgeklärteren im Land und innerhalb der EU als zweifelhaft oder diskriminierend empfunden werden, unterzeichnet sie nicht. Ihre Worte sind klar – Vergangenheit sei Vergangenheit; oder: Jetzt gehe es ums Überleben. Dabei geht Grybauskaitė beim Bemühen, mit postsowjetischen Strukturen und Denken aufzuräumen, an die Grenze des ansonsten Präsidenten zustehenden Spielraums oder auch darüber hinaus.
Vilnius – wie eine mehrmals überschriebene Handschrift
Prag oder New York sei Vilnius nicht, „aber doch ganz interessant“. Der Leiter einer Staatsbehörde, die Investitionen nach Litauen ziehen soll, hätte in anderen Ländern vielleicht seine Heimat schnittiger und forscher angepriesen. Überzeugt hätte er damit aber vermutlich weniger als der Gesprächspartner, der nicht aufschneiden will. Das ist auch nicht die Art der Litauer. Aufgeregt und patriotisch werden sie nur, wenn der dreifache Europameister im Basketball gegen die Amerikaner siegt, selten genug, oder er 2011 erstmals seit 1939 die Europameisterschaft selber wieder ausrichtete. Dann sind die sonst beschaulichen Straßen bis spät nachts von gelb-grün-rot fahnenschwingenden Jugendlichen gesäumt im vermutlich einzigen Land, das dem Nationalspiel ein sechs Meter hohes Denkmal widmet, eingeweiht 2007 vom damaligen Präsidenten. Anders als andere Nationen des östlichen Mitteleuropa brauchen Litauer nicht zu protzen, weil sie wissen, wer sie sind, und vor allem, wer sie waren: im Mittelalter das Zentrum eines litauisch-polnischen Doppelreichs, das weite Teile Mitteleuropas beherrschte. Mehr als 200 Kirchen belegten den Beinamen „Rom des Nordens“. Und bis zum Zweiten Weltkrieg auch das geistige Zentrum des liberalen osteuropäischen Judentums, das „Jerusalem des Nordens“. Aus dieser Zeit ist viel übriggeblieben, nicht nur die barocke Bausubstanz der zum Weltkulturerbe ernannten Altstadt, die einst das jüdische Ghetto umfasste, sondern auch eine Geisteshaltung. Vielleicht auch, weil man insgeheim weiß, dass man anders als Reval oder Riga nicht einst von Kolonialherren aus dem Westen gegründet und ausgebaut wurde, sondern „authentisch“ von Litauern.
In Vilnius konzentriert sich kultureller Reichtum vom Jazz bis zur Bildhauerkunst. Letztere treibt bizarre Blüten – viele Litauer haben Sinn für das Absurde und Hintergründige – mit dem ersten Denkmal der Welt für den Rockmusiker Frank Zappa oder einem verschrotteten Stalin-Büsten gewidmeten Park. Da scheint der alte Stein noch fast unscheinbar, der einige Kilometer außerhalb von Vilnius steht an dem Ort, den das Französische Nationale Geographische Zentrum als den Mittelpunkt Europas berechnete. Vor einigen Jahren noch war er schwer zu finden, jetzt aber haben Litauer dem Fremdenverkehr ihren Tribut gezollt mit einer Säule, einer Imbissbude und mehrsprachigen Erläuterungsschildern. Darauf fehlt allerdings der Hinweis, dass auch andere Städte – etwa in der Slowakei und der Ukraine – diesen Anspruch erheben. Beispiele für dies Verspielte ist zum einen der Künstlerstadtteil Užupis, der sich zur unabhängigen Republik ernannte mit eigener Flagge und eigenem Präsidenten. Deren Verfassung legt in ihren 41 Punkten fest, jeder habe das Recht, faul zu sein oder eine Katze zu lieben. Zum anderen eben die Zappa-Statue auf einem vier Meter hohen Sockel. Zappa war der aufsässigen Halbjugend im ehemaligen Ostblock ein Vorbild, weil er sich gegen das „Establishment“ auflehnte. Dabei war der Rockmusiker nie in Vilnius, und seine angebliche Absicht, kurz vor seinem Tod hinzufahren, ist nicht belegt. Und der Bildhauer hatte sich vor seiner Zappa-Statue auf Büsten Lenins und andere Helden der Revolution konzentriert.
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