»Oh ja, sicher.« Ich ging hinüber zum Tischchen und griff die Flasche. Ich ließ den Korken nicht knallen, holte zwei Zahnputzgläser aus dem Bad und setzte mich wieder neben sie. Ich traute mich nicht, auf die Uhr zu schauen. Ich hatte Lust auf sie und wusste nicht, wie viel Zeit mir von den zwei Stunden noch geblieben war. Wir stießen an. Dann erzählte sie mir von ihrem letzten Urlaub am Mittelmeer, von ihrem Ex-Freund, mit dem sie noch zusammenwohnte, von ihren zwei Hunden, ihren drei Kanarienvögeln, ihrer Eidechse und der Schildkröte, die dreißig Jahre älter war als sie.
»Von wem hast du sie?«, fragte ich. Sie trank ihren Sekt aus und antwortete nicht.
Ich streichelte ihren Arm, mit dem sie sich auf dem Bett abstützte, und sie blickte verwundert auf meine Hand, wie sie ihren Arm streichelte. Wir schwiegen, und ihr Lächeln wurde zu der Frage, die sie dann auch stellte: »Das ist seltsam, oder?«
›Ja, sie hat recht, es ist seltsam, ich verliebe mich gerade in sie. Aber es ist nicht echt, und das ist seltsam.‹
»Ja«, sagte ich. ›Ich möchte sie jetzt küssen, und sie wird es zulassen.‹ Ich beugte mich zu ihr, griff unter ihren Arm, zog sie etwas zu mir heran und küsste sie. Ihr Mund war weich, und ihre Zunge begegnete der meinen mit solcher Bereitschaft und Ruhe, dass ich mich ihr voll und ganz überließ.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir uns küssten. Es war der beste Kuss, es war der Kuss meines Lebens, mit einer Frau, die ich nicht kannte und die ich gekauft hatte, die mich küsste, als würde sie mich lieben, die mich küsste wie keine der Frauen, die mich geliebt hatten.
Mir war schwindlig, und ich beugte mich von ihr zurück.
»Du küsst gut«, sagte sie.
›Das muss sie jetzt sagen, natürlich muss sie das.‹
»Ich gehe jetzt kurz ins Bad, und du kannst ja versuchen, etwas gemütlicheres Licht zu machen.« Und dann war sie weg.
Ich war bereit. Ich löschte die Nachttischlampe und öffnete die Gardine etwas. Ein Spalt Licht schlug ins Zimmer und wechselte immerfort die Farbe. Sie kam aus dem Bad, als es blau wurde. Sie hatte nur noch schwarze Unterwäsche an, und ihr Körper erschien mir noch weißer und strahlte in dem Blau, dem Rot und dem Grün. Sie war wie eine Galionsfigur und hinter ihr ein Schiff aus schwarzem Stahl, das sie schwer zu mir ins Zimmer schob.
Ich lag ausgestreckt auf dem Bett und wartete auf ihre Hände, die mich ausziehen würden. Sie knöpfte mein Hemd auf und küsste sanft meine Brust. Ich nahm ihr kleines, weißes Gesicht zwischen meine Hände, zog sie zu mir und küsste ihren Mund. Und ich dachte: ›Das ist Wahnsinn.‹ Ich nahm nicht wahr, wie sie meine Hose auszog, wie sie meine Strümpfe von den Füßen streifte und meine Shorts über die Beine zog. Ich war bereit. Die ganze Zeit über. Ich öffnete ihren BH. Ihre Brüste waren klein, die Haut wie Samt. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihren Slip auszog. Dann lag sie neben mir und schaute mir in die Augen. »Du machst mich nervös«, sagte sie. Ich spürte ihren warmen Körper.
»Wie?«
»Du machst mich nervös.«
Ich verstand das nicht. ›Meint sie das ernst?‹
Sie küsste meine Schulter, und ihre Zunge fuhr meinen Hals entlang und langsam hinab an meiner Brust.
›Meint sie das ernst? Was ist hier los? Ich mag sie. Das kann nicht echt sein. Wie kann so etwas echt sein?‹
»Halt, warte.« Ich zog sie zu mir nach oben. »Warte«, sagte ich.
Sie schaute mich fragend an. Dann umarmte sie mich. Wir passten genau zusammen. Unsere Körper passten ganz genau zusammen. Ich drückte sie fest an mich, und sie verschwand in mir, denn sie wollte verschwinden und ich nahm sie auf, weil ich gewartet hatte auf jemanden wie sie.
»Du magst mich. Das ist das Problem, stimmt’s?«
»Ja, es ist verrückt, wir kennen uns nicht, aber ich mag dich.«
»Nein, das ist nicht verrückt, ganz und gar nicht, ich mag dich auch.«
›Sie muss das sagen‹, dachte ich, und dann sagte ich es: »Du musst das sagen.«
Ihre Stimme veränderte sich, ich spürte etwas Verletztes darin. »Du glaubst mir nicht?«
»Nein, entschuldige, ich glaube dir nicht. Du musst das sagen.«
»Glaubst du, ich würde einen meiner Kunden so umarmen wie dich? Glaubst du, ich würde mich von einem meiner Kunden so küssen lassen wie von dir? Ich mag dich, ich mag dich sogar sehr.«
Ein heißer Schwindel überkam mich. »Das kann nicht sein«, sagte ich, und da hatte ich bereits aufgegeben. Ich glaubte ihr. »Das kann doch nicht sein.«
Sie drückte sich fest in mich und sagte so still und so sicher, wie man nur die Wahrheit sagt: »Es ist aber so.«
Sie verbarg ihren Kopf in meinen Armen.
»Mir ist kalt«, flüsterte sie.
Ich deckte uns zu. Es war warm und wohl, und ich schloss meine Augen. Wir lagen sehr lange so. Bis der Wecker klingelte, denn sie hatte zu Beginn, wie sie es wohl immer bei ihren Freiern tat, ihr Handy auf ein und eine dreiviertel Stunde gestellt.
»Musst du jetzt gehen?«
»Nein, noch nicht, wir haben noch eine Viertelstunde.« Sie richtete sich im Bett auf und saß jetzt neben mir. »Ich möchte mit dir schlafen«, sagte sie. »Ich würde jetzt sehr gern mit dir schlafen.«
Ich wollte nicht. Ich konnte nicht. »Nein, entschuldige, lass uns bitte nur hier sitzen.«
Sie legte sich wieder neben mich und lehnte ihren Kopf auf meine Schulter.
»Lea.«
Ich hatte sie verstanden, sie hatte ›Lea‹ gesagt. »Wie?« fragte ich.
»Lea, ich heiße Lea. Das ist mein richtiger Name. Lea, und ich bin nicht sechsundzwanzig, sondern dreiunddreißig.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. ›Ist das ihr richtiger Name? Sie sagt das immer, zu jedem. So macht sie aus allen Freiern Stammkunden‹, dachte ich. »Du siehst nicht aus wie dreiunddreißig«, sagte ich.
»Ich weiß, deswegen haben die mich auch jünger gemacht. Und wie heißt du?«, fragte sie.
»Na Martin.«
»Ach, das ist dein richtiger Name?«
»Ja sicher.«
»Die meisten nehmen sich andere Namen und haben ein extra Handy. Du machst das wirklich zum ersten Mal.«
Ich sah halb unter der Decke ihre rechte Brust, wie sie leicht meinen Bauch berührte. Es fühlte sich schön an, sie war etwas kalt. Ich legte meinen Arm fester um ihre Hüfte und zog sie näher zu mir heran.
»Warum machst du das?«, fragte ich.
Sie schaute mich an und ich sah zwischen ihren Augenbrauen eine kleine Falte. »Was?«
»Na, das hier.« Ich deutete auf uns. »Warum hast du damit vor vier Monaten angefangen? Warum sagst du den Männern, dass du sie magst?«
»Das tue ich nicht. Ich sage es ihnen nicht. Ich habe es nur dir gesagt.«
»Gut, du hast es nur mir gesagt, aber was war vor vier Monaten? Wieso vor vier Monaten?«
»Es gab verschiedene Gründe, damit anzufangen.«
Ich wartete.
»Ich habe in einer Wasserspenderfirma gearbeitet, weißt du, die Dinger, die beim Arzt stehen, mit einem rosa und einem blauen Knopf, für normales und gekühltes Wasser. Ich war fürs Controlling der Firma zuständig. Zweihundert Angestellte. Sechzig Stunden Arbeit die Woche. Ich habe das gebraucht. Ich war immer ansprechbar. Mein Handy war die ganze Nacht an. Es kam vor, dass mein Chef vier Uhr morgens aus China angerufen hat, und ich bin rangegangen. Ich habe immer alles bis zur Erschöpfung gemacht. Eines Abends kam ich nach Hause. Mein Freund, wir waren schon getrennt, hat mir die Füße massiert, wir verstehen uns immer noch sehr gut. Er massierte mir die Füße, und ich merkte, wie mir der linke einschläft. Es war unangenehm. Ich sagte ihm, er solle doch links mal etwas mehr machen. Ich spürte nichts. ›Weiter oben und kräftiger‹, sagte ich. Er schaute mich komisch an. Ich sagte, dass er kräftiger zudrücken soll, denn ich hab’ gar nichts gespürt. Er drückte voll zu. Wir hatten gerade gegessen, und die Teller standen noch rum. ›Nimm die Gabel da!‹, sagte ich zu ihm. Er wollte erst nicht. Dann nahm er sie und stach leicht in meinen Oberschenkel. Ich spürte nichts. Es war beängstigend. Ich hab’ die Gabel genommen und so lange gedrückt, bis es zu bluten anfing. Er schaute mich an. So hatte ich ihn noch nie gesehen. So ängstlich. Ich fragte, was los ist. Er sagte nur, dass mit meinem Gesicht etwas nicht stimmt. Ich bin sofort ins Bad und schaute in den Spiegel. Meine linke Gesichtshälfte hing nach unten, wie geschmolzen, wie geschmolzenes Wachs. Es war so eine Art Schlaganfall. Es hat vier Wochen gedauert, bis ich meinen Mundwinkel wieder bewegen konnte. Mit der Arbeit war es erstmal vorbei. Ich dachte, es geht nie wieder weg. Jetzt ist es einigermaßen okay. Bis auf das hier.« Sie deutete auf ihr linkes Auge, das sich nicht bewegte und mich stumm anschaute.
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