»Ist der Bruder hier? Wir suchen Papas Bruder. Er ist gestorben. Ist er hier?«
Ich blieb stehen, drehte mich wieder um. Paul griff mit einer Hand mein Hosenbein und wartete die Antwort ab.
»Entschuldigen Sie, dass wir stören. Die Tür war nicht verschlossen. Entschuldigung.«
»Nicht so schlimm, kommen Sie ruhig herein«, sagte der Pfarrer. »Wie heißt er denn, der Bruder?«
Paul sagte: »Weiß ich nicht.« Dann schaute er mich an und fragte: »Wie heißt er denn, Papa?«
Und ich sagte, obwohl ich es nicht wollte: »Sebastian.«
Ich hatte das Gefühl, dass dieses Wort den Raum anders durchmaß als alle anderen Worte, als dauere es eine Ewigkeit, bis es verklungen war, und mir fiel auf, wie lange ich diesen Namen nicht laut ausgesprochen hatte.
Der Mann stand von seinem Stuhl auf und kam durch das Gewölbe auf uns zu. Ich sah in ihm alle seine Vorgänger, wie sie die Grabsteine unter sich abgenutzt hatten und nur durch das Darüberstreifen ihrer weichen Gewänder. Hier in diesem Raum herrschte die Zeit milder, dachte ich.
Der Pfarrer war bei uns, beugte sich zu Paul hinunter, und es hätte kein Finger zwischen seine Nase und die meines Sohnes gepasst, und sagte:
»Wieso denkst du, dass er hier ist?«
Mein Junge, davon unbeeindruckt, gab ihm direkt ins Gesicht zurück:
»Weiß nicht. Ist er hier?«
»Schon möglich«, sagte der Pfarrer.
Ich fand diese Antwort unerhört, doch fiel es mir schwer, ihm zu widersprechen. Mich interessierte, worauf er so geheimnisvoll hinauswollte. Mein Junge wandte sich von ihm ab und deutete auf eine große hölzerne Truhe mit einem halbrunden Deckel.
»Darf ich da reinschauen?«
Der Pfarrer richtete sich auf. Sein Gesicht wurde von dem Lichtstrahl getroffen, und seine Züge glichen kurze Zeit denen des Leidenden auf dem Triptychon hinter ihm.
»Aber sicher«, sagte er und beobachtete, wie Paul hinüberlief, den Deckel der Truhe anhob und hineinblickte.
»Da ist ja nichts drin.«
Mit diesem Pfarrer stimmte etwas nicht. Während er und mein Sohn die alten Schränke öffneten und auf der Suche nach meinem Bruder die Schubladen aufzogen, stand ich da und hörte immer noch den Namen, und ich hörte ihn aus dem Wald zu mir klingen, das Echo meines verzweifelten Rufes.
Nachdem der Alte und Paul sich niedergekniet und unter der abgestellten Kirchenbank gesucht hatten, dies ging nicht ohne einiges Gelächter ab, stützte sich der Pfarrer auf die Bank und sagte:
»Schau doch mal hinter dem Vorhang hier nach.«
Sofort sprang Paul hoch, lief zum einen Ende des Vorhangs und versuchte, ihn aufzuziehen. Er hatte Mühe, den schweren Samt zu bewegen, aber der Alte war schon bei ihm, packte mit an und gemeinsam zogen sie ihn auf. Dahinter war eine Feldsteinmauer, und an dieser hing ein mannshohes Kreuz und am Kreuz ein von Holzwürmern durchlöcherter, staubig-grauer Jesus.
Paul wich einen Schritt zurück.
»Papa, sieh mal, ist das dein Bruder?«
Der Pfarrer lächelte und beugte sich zu meinem Sohn hinunter. Er nahm den kleinen Kopf zwischen seine Hände und lachte laut auf, als er sagte: »Ja, mein Junge, das ist deines Vaters Bruder, er ist unser aller Bruder.« Paul blickte diesen Priester verblüfft an. »Das ist jemand, der für uns gestorben ist. Verstehst du das? Er hat sich geopfert, für uns alle, auch für dich.«
Mir schien, mein Sohn versuchte, mit dem Kopf zu schütteln, doch der Pfarrer hielt ihn fest. Ich ging auf diesen Alten zu, nahm den Arm meines Jungen und zog ihn fort.
»Wir gehen dann mal wieder«, sagte ich streng, mehr zum Pfarrer als zu meinem Sohn, und fast hätte ich den Alten für seine Unverfrorenheit gerügt, da sagte er:
»Entschuldigen Sie. Das war wohl nicht richtig. Warten Sie! Einen Augenblick noch.« Er ging zu seinem Tisch zurück, öffnete eine kleine Schatulle, nahm etwas heraus und kam wieder zu uns zurück.
Er ergriff Pauls Arm und legte es in seine Hand. Ich konnte nicht gleich erkennen, was es war.
»Hier, nimm das, mein Junge. Es ist ein kleines Geschenk, aber es ist mehr wert als alle Geschenke der Welt.«
Die dreiste Art des Alten machte mich beinahe sprachlos.
»Nein, danke. Das reicht jetzt«, sagte ich, doch bevor ich weitersprechen konnte, unterbrach mich Paul:
»Oh ja, Papa, darf ich es haben? Ach bitte, Papa! Ich möchte es behalten.«
Und dann sah ich, was der Pfarrer ihm gegeben hatte. Es war ein kleiner Jesus am Kreuz, und er war aus Kautschuk, wie die Indianer und Soldaten, mit denen ich als Kind gespielt hatte.
»Na gut, wenn es denn sein muss. Bedank dich bei dem Herrn«, sagte ich zu Paul, und er ganz artig: »Danke.«
Wir waren wieder heraus aus der Kirche. Die Frühjahrssonne schien schräg über den Marktplatz, und wir gingen in Richtung Eisstand, der wohl den ersten Tag geöffnet hatte. Paul griff meine Hand und fragte mich: »Was ist das, geopfert?«
Es war noch recht kühl draußen, und ich steckte die andere Hand in die Jackentasche, da fühlte ich die Kerze. Die hatte ich über diesen Pfarrer ganz vergessen, und ich ärgerte mich darüber.
»Was heißt das, geopfert?«
Ich überlegte. »Das ist eine seltene Eigenschaft des Menschen«, antwortete ich.
»Ja, aber was genau?«
Ich musste etwas länger darüber nachdenken, und Paul wartete geduldig auf meine Antwort.
»Stell dir vor, du möchtest ein Eis und wir wären arm und hätten kein Geld, und da steht ein kleiner Junge vor der Eistruhe und bekommt gerade eine schöne große Tüte von dem Verkäufer. Sagen wir, der Junge hat lange gespart dafür, und nun sieht er dich, wie du gerade von mir hörst, dass ich kein Geld hätte und es deshalb nichts wird mit Schoko und Erdbeer. Da kommt dieser kleine fremde Junge auf dich zu und gibt dir sein Eis. Was sagst du dazu?«
»Toll. Was für ein Junge!«, sagte Paul wie aus der Pistole geschossen.
»Nun, meinst du, es gibt viele von solchen Jungen?«
»Ich glaube nicht.«
»Das nennt man: geopfert.«
»Ach.« Nach einer kleinen Pause sagte er: »Hat sich dein Bruder auch geopfert?«
»Oh nein.«
»Wieso ist er dann tot?«
»Er ist als Kind sehr krank geworden und dann gestorben.«
»Was hat er denn gehabt?«
»Eine seltene Krankheit.«
»Das versteh’ ich nicht«, sagte Paul.
»Ich auch nicht«, sagte ich.
Normalerweise wäre das mit Paul der Anfang eines langen, eines sehr langen Gespräches gewesen, doch an diesem Tag hatte er wohl gespürt, dass ich die Antwort wirklich nicht wusste und dass mir die Unterhaltung schwerfiel und mich bedrückte. Deshalb nahm er mit seiner kleinen Hand die meine und ging mit mir nach Hause.
In den kommenden Tagen konnte ich Paul dabei beobachten, wie er mit seinen Indianern und Soldaten spielte, und zwischen ihnen tauchte immer dieser Jesus auf. Er ging an seinem Kreuz durch die Reihen der Kämpfer, manchmal schwebte er an ihnen vorüber und sie blickten ihm nach und riefen laut, und ich konnte in der Küche hören, was sie riefen, und ein Schmerz durchlief mich, wenn mein Junge wieder und wieder verkündete:
»Sebastian ist da! Er wird uns helfen, er hat so viel Kraft! Sebastian ist ein Held!«
Dann schlug er mit dem Jesus in die feindlichen Reihen und fegte sie davon.
Die ›Queen Mary 2‹ war beim letzten Mal direkt vor meinem Hotelfenster vorbeigefahren. Ich konnte in die tausend beleuchteten Kabinen schauen und die tausend Fernseher hinter den halb durchsichtigen weißen Gardinen flackern sehen.
Dieses Hotel hier hatte nichts dergleichen zu bieten. Das Zimmer war eng, und an den Wänden waren graue, feuchte Flecken. Ich fühlte die Anwesenheit von hunderten dumpfen Gestalten, die dieses Zimmer bewohnt und abgenutzt hatten. Neben dem Bett hatten sie sich die Schuhe ausgezogen und dabei an der Tapete schwarze und braune Kratzer hinterlassen. Die Energiesparlampe an der Decke tauchte den hohen Raum in eine kalte Schäbigkeit. Das war alles so erbärmlich, und ich war es auch. Das wurde mir jetzt klar. ›Ich werde anrufen und das absagen‹, dachte ich. ›Die werden sagen, gebucht ist gebucht. Haben ja auch sicher recht damit. Also gut, dann wird es so sein.‹
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