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Donnerstag, 8. März, 6 Uhr
Martinas Wohnung
Drei Männer umstanden ihr Bett. Sie schloss die Augen. Horchte auf ihren Atem. Horchte auf den Atem der Männer. Aber sie hörte nur sich selbst immer heftiger ein- und ausatmen. Ihre Brust hob und senkte sich, ihr ganzer Körper wollte aufbegehren, aber Füße und Hände waren fixiert. Ausatmen, einatmen. Sie öffnete die Augen. Der Mann am Fußende des Bettes fasste beruhigend ihre Füße, dann gab er den beiden anderen das Zeichen. Sie konnte kein Gesicht erkennen. Die Männer waren ganz in Weiß gekleidet, trugen weiße Handschuhe, weiße Atemmasken, weiße Kopfhauben. Farbig waren nur die hölzernen Mikadostäbe in den Händen der Männer, die rechts und links von ihrem Bett standen. Sie konnte ihren Kopf nur leicht hin und her bewegen, ein Stirnband aus weichen Mullbinden presste ihn auf die Liege. Ihre Arme waren fest an den Körper gebunden, ihre Finger flatterten ängstlich, und wieder strich ihr der Mann am Fußende des Bettes beruhigend über die nackten Zehen. Der Mann links von dem Bett beugte sich über sie, zog das Bettlaken beiseite und legte ihre linke Brust frei. Er tat es ruhig und nahezu ohne sie zu berühren. Seine Hand zitterte nicht, und als die Brust frei lag, die Warze klein und hart, weil sich ihr ganzer Körper in Angst versteifte, trat er wieder zurück und wartete auf das Zeichen des anderen. Der nickte dem Mann rechts von ihrem Bett zu. Sie wollte schreien. Sie öffnete den Mund, riss ihn auf, und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Sie hatte geschworen, tapfer zu sein. Der Blutgeschmack beruhigte sie ein wenig. Sie hatte geschworen, tapfer zu sein, das alles zu ertragen, den Schmerz hinzunehmen, für welche Schuld auch immer. Sie glaubte, ein Lächeln auf dem Gesicht des Mannes am Fußende des Bettes zu sehen. Dankbar blickte sie ihm direkt in die Augen. Er würde sie vom Schmerz erlösen, losbinden, nach Hause schicken … Er hob den Arm, in der Hand den pfeilspitzen Mikadostab. Sie musste unwillkürlich lächeln. Er hatte das Spiel gewonnen. Sie brauchte keine Angst zu haben. Er konnte zufrieden sein. Er hatte gewonnen. Der Mann rechts an ihrem Bett trat vor, nahm einen der Stäbe, die nicht aus Holz waren, das sah sie jetzt mit Schrecken, das waren nicht die Holzstäbe ihrer Kindheit, das Mikadospiel, das ihren Vater immer zur Verzweiflung gebracht hatte, weil er mit seinen zitternden Händen nie einen Stab wegbewegen konnte, ohne einen anderen zu berühren. Ihre Mutter war gut darin. Sehr gut. Sie rollte die Stäbe weg, nahm sie aus der Luft, wie ein Raubvogel unhörbar seine Beute, sie konnte die Stäbe anheben, ganz leicht, indem sie einfach fest auf die Spitze drückte, sie hin- und herschwang ganz nach Belieben. Sie lernte das Spiel von ihrer Mutter, sie spielte es gern, es war ein Geschicklichkeitsspiel und ein Orakel zugleich. Chien Tung, so hieß die buddhistische Wahrsagemethode, in der es auch einen Mikado gab, den Herrscherstab, benannt nach dem japanischen Kaiser, mit dessen Hilfe alle anderen Stäbe, die Mandarin, die Bonzen, die Samurai und die Kulis bewegt werden durften. Ihre Mutter war sehr gut darin, mit dem Mikado die anderen Stäbe auseinanderzudividieren, wegzurollen, hochzuwerfen. Ihr Lachen war dann immer so froh, selten hörte sie ihre Mutter so froh lachen wie beim Mikadospiel.
Der Schmerz kam so überraschend, dass sie gar nicht wusste, woher er eigentlich rührte. Sie riss die Augen auf. Der Mann hatte sich nur leicht über ihr Bett gebeugt und den lanzenartigen, zugespitzten Mikadostab kurz oberhalb ihres Brustansatzes in ihr Fleisch gebohrt, tief genug, um brutal zu schmerzen, aber es würde sie nicht töten. Das spürte sie. Ein einzelner Mikadostab würde sie nicht töten. Sie musste lächeln bei dem Gedanken. Tränen schossen in ihre Augen, als der zweite Stab sich neben den ersten bohrte. Der Mann links von ihrem Bett war vorgetreten und hatte die zweite Lanze direkt neben die erste gesetzt. Noch ehe sie begriff, bohrte sich der dritte Stab neben den zweiten. Die Männer ließen sich exakt so viel Zeit, dass sie den Schmerz unterscheiden konnte, jeder neue Stab ein neuer Schmerz.
Sie blickte erstaunt auf den Mann am Fußende. Er hatte ihr doch geschworen, es würde alles gut werden. Sie kannte ihn, sie wusste, warum sie zum ihm gekommen war. Er sollte sie gesund machen. Er hatte versprochen, sie zu heilen. Der Tenno, der Herrscher, der weiße Magier. Aber jetzt spießten seine Helfer Stab um Stab in ihren Brustkorb.
Sie begann mitzuzählen. Zehn eiserne Stäbe staken schon in ihrer Brust. Sie konnte nur ihre spitzen Enden sehen, die leicht zitterten. Ihr ganzer Körper zitterte leicht. Weil der elfte Stab noch einmal Schmerz brachte, mehr Schmerz, und sie verwundert fühlte, wie sich ihr ganzer Körper in einen einzigen Schmerz verwandelte, in einen einzigen Schrei, der nur als leises Wimmern nach außen drang. Sie biss sich wieder und wieder auf die Zunge, das war erträglicher als der Schmerz von Stab Nummer zwanzig, und einundzwanzig, und Stab Nummer dreiundzwanzig würde die Ohnmacht bringen. Aber sie konnte noch zählen bei Stab Nummer fünfunddreißig und sechsunddreißig und siebenunddreißig, bis ihre Brust umrundet war von Schmerz. Ein Ring von Schmerz und Feuer, und eine Angst schlich sich ein, ein Bild, eine verkohlte Brust, ein Stückchen Kohle nur noch auf einem verbrannt flachen Brustkorb. Der Strahlenkranz um ihre Brust, er hatte alles verbrannt. Sie würde einfach abfallen. Totes verkohltes Fleisch. Ihre Brust würde einfach abfallen.
Der Mann löste ihre Fesseln. Winkte ihr zu, sich vorzubeugen. Die beiden Helfer links und rechts boten ihr an, sie aufzurichten. Sie schüttelte den Kopf, heftiger und heftiger. Sie würde sich nicht aufrichten. Ihre Brust, sie wollte ihre Brust nicht verlieren. Sie würde sich nicht aufrichten. Sie würde niemals mehr die Augen öffnen. Sie war zufrieden mit dem nachlassenden Schmerz. Sie wollte schlafen. Sie würde schlafen. Schlafen, bis alles wieder gut war.
Aber ihre Hände waren frei. Ihre Hände waren neugieriger als sie selbst. Ihre Hände wollten sehen und fühlen. Wo die Stäbe geblieben waren, wo der Schmerz saß, wo das Blut rann. Ihre Hände schlichen sich an ihrem Körper hoch, langsam über den Bauch, sie spürte ihre Rippen immer noch zittern, die Hände streichelten sich höher, beruhigend, kamen näher an ihre Brüste, kein Einstich war zu spüren, die Zeigefinger strichen seitwärts, fühlten, verglichen, die Haut war glatt, ohne Einstiche, alles verheilt, im Nu, nie war etwas geschehen, die Hände strichen höher, fühlten ihre Brüste, glitten über sie hinweg, blieben ruhig liegen. Sie atmete ruhig. Nichts war geschehen, nichts.
Aber da stand immer noch er. Am Fußende des Bettes. Er zog den Mundschutz ein wenig nach unten.
«Sehr tapfer!» Sie vermutete ein spöttisches Lächeln in seinen Augen, aber sie konnte es nicht sehen. «Unangenehm so eine Strahlentherapie, aber ich verspreche Ihnen, Sie sind geheilt!»
Sie hielt ihre beiden Brüste fest, starrte ihm in die Augen, glaubte ihm kein Wort.
«Sie sind geheilt, nach diesem letzten kleinen Schmerz.» Der Stahl rammte sich in ihren Unterleib, durchstieß die Gebärmutter, riss die Lungenflügel auf, zermalmte ihr Kiefer und Kopf und ließ sie zurück, gepfählt und wund und immer noch am Leben. Sie schlug die Augen auf. In den ersten Wochen, als sie diesen Traum immer wieder träumte, waren die Augen noch tränennass gewesen. Anfangs erwachte sie mit einem Schrei auf den Lippen oder mit Blutgeschmack auf der Zunge, weil sie sich im Traum darauf gebissen hatte. In den letzten Wochen wachte sie ungerührt auf, ohne Tränen, ohne Blut, ohne Schrecken, sie wusste, sie würde diesen Traum ihr Leben lang träumen.
Ihr Anrufbeantworter blinkte. Am Abend zuvor war sie zu müde gewesen. Sie wollte einfach ihre Ruhe haben. An diesem Morgen war es nicht anders. Lebenslänglich Schlaf. Einen Augenblick war sie versucht, die Nachrichten einfach zu löschen. Dann drückte sie pflichtschuldig die Abfragetaste.
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