„Wer sagt das?“
„Der Inselfunk.“ Dabei wanderten Damps Pupillen in Richtung Fittkau. Früher waren Fittkau und Damp wie Feuer und Wasser gewesen. Waren sie aufeinandergetroffen, hatte es immer gleich Streit gegeben. Doch seit die beiden gemeinsam Jagd auf den Mörder des Inselpfarrers gemacht und dabei ihr Leben riskiert hatten, herrschte Waffenstillstand. Kein Frieden. Rieder war das nicht so recht. Bisher war Fittkau für ihn im Kleinkrieg mit seinem Kollegen Damp immer ein Verbündeter gewesen. Nun verhielt er sich neutral. Und dass die beiden nun geradezu harmonisch hier herumstanden, machte Rieder ärgerlich.
„Wir sehen uns morgen früh im Revier. Nacht.“
Damit marschierte er an Damp und Fittkau vorbei in Richtung Vitte.
„Wollen Sie nicht mitfahren?“, rief ihm sein Kollege noch hinterher.
Rieder antwortete nicht. Er war kurz davor, zu explodieren.
Wenig später fuhr Damp an ihm vorbei. Malte sah er später mit seinem Fahrrad über den Deich nach Vitte zurückfahren.
Obwohl er straff gelaufen war, hatte sich der Ärger über Damp und Malte Fittkau nicht verflüchtigt. Er schloss die Tür seines Häuschens im Wiesenweg auf, trat ein und knallte sie dann zu. In der kleinen Küche riss er den Kühlschrank auf, holte ein Bier raus. Die Schublade des Besteckkastens bekam auch noch seinen Frust zu spüren, als er den Flaschenöffner herausholte. Es öffnete die Flasche, da hörte er eine verschlafene Stimme von oben, aus dem kleinen Schlafzimmer unter dem Dach.
„Stefan?“ Er sah Charlottes nackte Beine die Holztreppe herunterlaufen. Sie trug ein äußerst kurzes Nachthemd. Der Anblick versöhnte Rieder und ließ seine Laune deutlich steigen. Sie küsste ihn. Strähnen ihrer blonden Haare fielen ihm ins Gesicht. Er umfasste sie an der Hüfte und zog sie zu sich heran.
„Wie spät ist es?“, hauchte sie verschlafen in sein Ohr.
„Zu früh. Gerade zwei.“ Er stellte das Bier auf den Küchentisch und begann sie sanft zu streicheln.
„Was ist eigentlich los?“
„Ein Herr Stein lag tot in der Nähe vom Zeltkino.“
Charlotte schaute erschrocken zu ihm hoch: „Was? Peter Stein?“
Rieder nickte. Er hatte aber keine Lust, mehr zu erzählen. „Lass uns hoch gehen. Eine nette Überraschung, dass du hier bist.“
Eigentlich kam Charlotte nur am Montag zu ihm nach Vitte, wenn in ihrem Strandcafé in Neuendorf Ruhetag war. Bei ihm gab es keine Dusche, nur ein großes Waschbecken. Und die Toilette war von außen zu begehen. So fuhr Rieder meist zu Charlotte nach Neuendorf. Sie hätte es gern gesehen, wenn er ganz zu ihr gezogen wäre. Bisher hatte er aber dieses Thema konsequent gemieden. Seine Ausrede: Es könnten nicht beide Polizisten in Neuendorf wohnen. Allerdings wollte er das Häuschen auch nicht aufgeben. Er mochte die niedrigen Räume, den Duft der alten Möbel, den Blick aus dem Fenster auf die Heckenrosen und nicht zuletzt seine Selbständigkeit. Trat er durch die Tür, fühlte er sich einfach zu Hause. Natürlich zeigten sich jetzt mit Beginn des Herbstes auch die Nachteile. Die Kälte drang durch die dünnen Wände. Es gab zwar im unteren Zimmer einen Ofen, aber oben, auf dem Schlafboden, musste er mit Radiatoren heizen. Mit Unbehagen hatte er beobachtet, wie der Stromzähler rotierte, wenn er sie in Betrieb nahm. Die Stromrechnung würde sich sehen lassen können. Trotzdem wollte er hier bleiben.
„Aber was ist denn genau passiert?“, drang Charlotte auf ihn ein.
„Ich erzähle es dir morgen früh. Jetzt bin ich einfach platt. Lass uns ins Bett gehen“, sagte Rieder.
Sie kletterten die schmale Holztreppe hoch. Im Bett schmiegte sich Charlotte eng an ihn. Zu mehr aber war er nicht mehr imstande. Trotzdem genoss er es, dass sie jetzt so nah beieinander unter dem Reetdach wie in einer Höhle lagen. Durch die halbrunden Fenster konnte man in die Weite schauen und sich langsam vom Schlaf einfangen lassen.
Das nervtötende Jaulen eines Kantenschneiders weckte Rieder. Es musste genau acht Uhr sein. Otto Fock, der Gastwirt von gegenüber, war ein Muster an Pünktlichkeit. Anfang August hatte ihm die Post das Gerät gebracht. Seitdem litt Rieder jeden Mittwoch und Freitag ab acht Uhr für mindestens eine halbe Stunde Höllenqualen. Das Geräusch kroch in die Gehörgänge und marterte das Gehirn. Es gab kein Entkommen, außer der Flucht zum Revier.
Rieder hatte Fock gefragt, ob das Gras an der Rasenkante nach drei Tagen wirklich so gewachsen wäre, dass es dringend gestutzt werden müsste. Der hatte Rieder einfach stehen lassen. Umgekehrt allerdings marschierte Otto Fock inklusive Inselordnung bei jedem auf, der in seiner näheren Umgebung nach zwölf Uhr mittags in seinem Garten noch einen Rasenmäher oder Häcksler betrieb. Seine Gäste in den Appartements und im Restaurant würden sich durch den Lärm in der Mittagsruhe oder beim Mittagessen gestört fühlen. Wer trotzdem weitermachte, wurde angezeigt. Damp freute sich immer, wenn der Gastwirt mal wieder anrief oder bei ihm im Revier aufkreuzte. Da hatten sich zwei im Geiste gefunden.
Das Bett neben Rieder war schon leer. Er sprang auf, lief die Treppe herunter. Charlotte stand fertig angezogen in der Küche. Es duftete nach Tee und frischen Brötchen.
„Bist du schon lange auf?“
„So, wie du gesägt hast, hätte ich auch schon vor zwei Stunden aufstehen können. Aber es lag nicht nur daran. Ich habe heute so viel vor. Da schlafe ich immer so unruhig. Ich habe dann immer das Gefühl, zu verschlafen oder was zu verpassen.“
Rieder zeigte auf die frischen Brötchen. „Und beim Bäcker warst du auch schon?“ Charlotte nahm das Tablett, trug es ins Wohnzimmer. Dabei berichtete sie: „Da war was los. Der Tod von Stein ist das große Thema. Alle sind total aufgeregt. Erzähl doch mal, was da passiert ist. Bin ja nicht umsonst die Geliebte eines Bullen.“
„Ich dachte, du magst mich.“
„Nun übertreib mal nicht gleich“, spöttelte sie. „Stimmt es, dass er erstochen wurde? Überall Blutlachen?“
„Quatsch.“
Rieder setzte sich und berichtete ihr, was passiert war. Das war zwar nicht ganz nach Dienstvorschrift, aber alles andere wäre ohnehin sinnlos gewesen. Neuigkeiten machten auch ohne ihn auf der Insel die Runde.
Er goss sich und Charlotte Tee ein. „Ich kannte ihn gar nicht. War er denn so eine große Nummer?“, fragte Rieder.
„Er war der Bauunternehmer auf der Insel“, rief Charlotte, als könnte sie es nicht fassen, dass Rieder ihn nicht kannte. „Mir hat er damals beim Ausbau vom, Strandcafé‘ geholfen.“ Dann wurde sie nachdenklich. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich noch vor zwei Tagen mit ihm gesprochen habe.“
„Worum ging’s denn?“
„Er hat mir die Pension ‚Luv & Lee‘ gezeigt, die geschlossene Kneipe vorn am Seglerhafen, vor dem Deich.“
„Wieso das?“, fragte Rieder verwundert.
„Ich habe überlegt, dort ein zweites Café aufzumachen. Laufkundschaft gibt’s da genug, weil viele auch über den Deich nach Kloster laufen oder fahren. Für eine Pension ist die Lage auch nicht so schlecht. Gleich am Hafen.“ Sie stützte das Kinn auf ihre Hand. „Weiß gar nicht, warum die Godglücks damit pleitegegangen sind?“
Rieder starrte seine Freundin an. „Noch eine Kneipe? Du hast doch schon mit dem ‚Strandcafé‘ alle Hände voll zu tun!“
„Darüber können wir später reden. Ich muss los. Das Schiff nach Schaprode wartet nicht.“
Charlotte hatte sich nebenbei zwei Brötchenhälften geschmiert, klappte sie zusammen und stürzte den Tee herunter.
Keine zwanzig Minuten später betrat Rieder das kleine Revier im Rathaus in Vitte. Auf dem Weg dahin waren ihm überall kleine Grüppchen von Hiddenseern begegnet. An der Bushaltestelle Wallweg, am Zeitungsladen, am Supermarkt. Sie hatten zusammengestanden und heftig miteinander diskutiert. Immer wieder hatte er den Namen Peter Stein aufgeschnappt.
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