Doch dann hatte Damp bei der Aufklärung des Mordes am Inselpfarrer sein Leben aufs Spiel gesetzt. Damit war er in der Achtung von Durk überraschend weit gestiegen. Er hatte Damps Beförderung zum Revierleiter sofort akzeptiert.
Damp traute dem Frieden nicht. Deshalb war es ihm jetzt auch wichtiger, Durk zu informieren, als sich mit dem Leid der Ehefrau zu beschäftigen. Dass sie nun Witwe war, daran ließ sich in seinen Augen sowieso nichts mehr ändern.
„Dann rufen Sie doch Durk an ...“, gab Rieder nach.
Kaum hatte er das ausgesprochen, hörte er in der Dunkelheit das Klicken der Tasten eines Mobiltelefons und dazu das hektische, aufgeregte Atmen seines Kollegen. Er selbst griff auch nach seinem Handy und suchte in dem beleuchteten Display nach der Nummer von Inselpfarrer Laube.
Wenig später hatten die beiden Sanitäter die Leiche in einem Plastiksack verstaut. Möselbeck ging mit seiner Taschenlampe vorweg, um den beiden Männern den Weg zu leuchten. Allerdings war es trotzdem schwierig, den Toten durch das unwegsame Gelände zu tragen. Ab und zu mussten die beiden Männer den Sack absetzen. Rieder beobachtete das Geschehen mit Missvergnügen. Er konnte jetzt schon Behm poltern hören, wie man hier noch eine vernünftige Spur sichern solle. Aber anders war es wohl nicht zu machen.
Als sie auf den Weg zum Zeltkino einbogen, warteten immer noch viele, um einen Blick auf den Toten zu erhaschen. Die schöne digitale Welt konnte auch zum Fluch werden.
Damp spannte gelbes Band mit der Aufschrift „Polizeieinsatz! Betreten verboten!“ zwischen den Bäumen, um den Pfad zum Tatort und den Weg zum Strand abzusperren. Allerdings würde das wohl kaum die neugierigen Touristen aufhalten, war sich Rieder sicher.
Nachdem die Leiche im Krankenwagen verladen war, fuhren die Sanitäter in Richtung Kloster ab. Die Menschen auf dem Platz machten für das Auto eine Gasse frei und bildeten eine Art Spalier. Unter den Wartenden entdeckte Rieder auch Malte Fittkau. Er nahm sogar seine Schiffermütze ab, als der Krankenwagen vorbeifuhr. Pfarrer Laube hatte versprochen, die Leiche in der kleinen Kapelle neben der Inselkirche aufzubahren und dort auch eine Leichenschau durch die Spurensicherung zuzulassen.
Kaum war das Auto verschwunden, kam Bürgermeister Durk durch die Gasse. Der sonst so dynamische Mann wirkte bedrückt. Wie von einer schweren Last niedergehalten, schleppte er sich zum Zeltkino. Er streckte den beiden Polizisten die Hand entgegen und drückte sie mit leichtem Nachdruck, als hätten sie einen gemeinsamen Angehörigen oder Freund verloren.
Rieders Verhältnis zum Bürgermeister war alles andere als spannungsfrei. Durk war der Mann aus Berlin nicht geheuer. Er fürchtete, er könnte sich in seine Angelegenheiten einmischen. Zugereisten, wie Fremde auf der Insel genannt wurden, begegnete er immer mit einer gewissen Skepsis.
Durk wandte sich an den Revierleiter. „Danke, Damp, dass Sie mich gleich angerufen haben. Haben Sie schon eine Spur?“
Statt des Revierleiters antwortete Rieder. „Wir stehen erst ganz am Anfang. Wir müssen abwarten, ob die Spurensicherung vielleicht noch etwas entdeckt. Die Kollegen können aber erst morgen kommen. Das wird also sicher schwierig ...“
„Wo ist es denn passiert?“
Rieder zeigte in Richtung Strandwald: „Da hinten, an einem alten Kahn.“
Durk schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist sein Kahn. Peters Kahn. Früher sind wir damit oft rausgefahren, haben Heringe geangelt. Eimerweise haben wir sie aus der See geholt ... Das ist alles schon so lange her ... Kann ich mir den Tatort ansehen?“
„Das ist keine gute Idee“, erwiderte Rieder vorsichtig. „Wir würden unseren Kollegen die Arbeit noch weiter erschweren.“
„Ich verstehe ... Peter und ich ... wir waren Schulkameraden, haben in der gleichen Bank gesessen, von der ersten bis zur zehnten Klasse. Hier in der Inselschule.“ Durk schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht fassen.
„Hätten Sie denn einen Verdacht? Wenn Sie ihn so gut kannten ...“, fragte Rieder.
Schulterzucken. „Keine Ahnung. Ich kann mir so etwas auf unserer Insel immer gar nicht vorstellen. So ein schönes Fleckchen Erde. Er hat die Insel sehr geliebt.“ Durk sprach mehr zu sich selbst und schaute dabei in Richtung Tatort. „Tja ... ich versteh’ es nicht ... Er hat so viel Gutes für Hiddensee getan.“
‚Da übt wohl schon einer für die Trauerrede‘, dachte Rieder im Stillen. Dafür hatte er jetzt aber keine Zeit. Es ging bereits auf Mitternacht zu. Sie mussten noch das Pärchen befragen, das die Leiche entdeckt hatte, Dora Ekkehards Aussage aufnehmen und die Ehefrau über den Tod ihres Mannes informieren.
„Verzeihen Sie, aber wir müssten noch ein paar Dinge erledigen“, unterbrach er Durk.
„Ja, ja, machen Sie Ihre Arbeit. Wenn Sie Hilfe und Unterstützung brauchen, meine Tür steht Ihnen offen.“ Dabei schlug er Rieder kumpelhaft auf die Schulter. Dann drehte er sich um und ging schweren Schrittes davon.
„Der ist ganz schön getroffen.“
„Klar. Stein war die Stütze seines Systems“, meinte Damp leise.
Dora Ekkehards kleines Reich hinter der Rückwand des Kinos bestand aus zwei Räumen. In der kleinen Kammer, die auch gleichzeitig als Verkaufsschalter diente, konnte man kaum treten. An der Wand gegenüber der Tür stand ein riesiger Kühlschrank, daneben die Kästen mit Bier und Erfrischungsgetränken. Unter dem großen Fenster rechts, an dem sie die Kinokarten verkaufte, waren Kartons mit Chipstüten und Süßigkeiten gestapelt. In der Mitte stand ein alter Drehstuhl. Damit konnte sie alle Zutaten für einen zünftigen Kinobesuch erreichen. Im Vorführraum standen drei große Projektoren. Die Schriftzüge und Namen der Firmen deuteten auf ein längst vergangenes Zeitalter. Obwohl die Vorführung nun schon seit fast zwei Stunden vorbei war, war es hier drinnen immer noch heiß und stickig. Auf einer kleinen Bank an der Wand saßen dicht gedrängt Birte und Markus. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Sie hielt krampfhaft eine Tasse in der Hand.
Rieder stellte Damp und sich vor. Damp war hinter Rieder in den engen Vorführraum getreten. Eigentlich war für ihn gar kein Platz mehr. Die Abluft der immer noch heißen Projektoren nahm ihm den Atem und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Außerdem bekam er Platzangst. Er quälte sich wieder zurück zur Tür. „Ich warte einfach draußen. Außerdem muss die Aussage von Frau Ekkehard noch aufgenommen werden.“ Damp drehte sich um und marschierte hinaus.
Rieder wandte sich den beiden Zeugen zu. „Sie haben also den Toten entdeckt?“
Birte und Markus berichteten, wie sie auf den Pfad abgebogen waren, sich auf den Kahn gesetzt hatten und Birte mit dem Fuß an den Toten gestoßen war. Danach waren sie zum Zeltkino gerannt. Dort hatten sie Dora Ekkehard von ihrem Fund erzählt. Die Kinofrau hatte dann gleich versucht, den Inselarzt zu erreichen.
„Als der Arzt da war, sollten wir hier warten. Und sie ist mit ihm zu dem ... Toten“, erzählte Birte. „Sie kam noch einmal zurück, um uns Bescheid zu sagen, dass sie die Polizei holen müsste. Seitdem sitzen wir hier.“
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Vor oder nach der Vorstellung?“
Beide sahen sich an und schüttelten dann den Kopf. „Wir wollen einfach nur nach Hause“, bat Birte ängstlich. „Das war so schrecklich. Wie er da lag.“ Die Frau war den Tränen nah.
„Ich kann Sie verstehen. Aber ich habe leider noch ein paar Fragen. Gab es einen Grund für Ihren Ausflug ins Strandwäldchen? Der Weg endet doch da einfach.“
Birte und Markus erröteten leicht und schauten betroffen auf den Fußboden. Markus fand zuerst die Sprache wieder. „Wir wollten noch ein bisschen allein sein.“ Er machte eine kurze Pause. „Nach dem Film!“
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