„Möchten Sie etwas essen?“
William schob Andy die Speisekarte zu.
„Nein, danke“, lehnte Andy ab. „Es gibt eine erste Spur. Ich habe einen Hinweis von einem früheren Kollegen erhalten, der mittlerweile im Immigrationsbüro tätig ist.“
Ein Touristenpaar nahm an einem Ecktisch Platz. Sie bestellten Waffeln mit Zimtsahne und Nougatcreme. Dann bauten sie ihre Tablets auf und jeder für sich entfloh schweigend in seine private Virtualität. William zog den Löffel aus der Tasse und legte ihn behutsam auf die Untertasse.
„Das ist Herbert C. Persitzky. Ich habe mir erlaubt, ein paar Fotos aus der Entfernung zu schießen. Bitte entschuldigen Sie die schlechte Qualität.“ William nahm die Aufnahmen entgegen, die einen älteren Herrn mit schütterem, grauem Haar und einer altmodischen Hornbrille zeigten.
„Laut Auskunft der Ausländerbehörde wurde Persitzky am 20. April 1951 in Buenos Aires geboren, ist amerikanischer Staatsbürger und seit 2003 mit einem Dauervisum und einer Arbeitserlaubnis in Bangkok gemeldet. Ich werde in den nächsten Tagen die Echtheit der von Persitzky vorgelegten Immigrationsdokumente überprüfen“, erläuterte Andy seine Nachforschungen. William untersuchte auf den Fotografien die Gesichtspartie und, soweit erkennbar, die Hände Persitzkys.
„Gute Arbeit, Andy. Womit verdient der Mann seinen Lebensunterhalt?“
„Er arbeitet stundenweise als Verkäufer für Importweine und Spirituosen in einem Feinkostgeschäft in der Shoppingmall Siam Paragon. Außerdem schreibt er unter einem Pseudonym Kriminalromane, Thriller und Ähnliches.“
„Unter Pseudonym?“ William spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Andys Entdeckung schien vielversprechend.
„Sein Autorenname ist Lawrence Fisher. Sein Thriller Lost Souls of Bangkok hat sich vor ein paar Jahren gut verkauft. Es gab sogar Pläne für eine Verfilmung, die aber im Sande verlaufen sind“, erklärte Andy.
„Lawrence Fisher? Nie gehört. Wo wohnt Persitzky?“
„Er hat sich erst kürzlich ein Apartment in Sukhumvit Soi 31 gekauft, eine ziemlich teure Gegend. Dort leben viele Expatriates, leitende Angestellte ausländischer Konzerne und reiche Ausländer.“
Andy schob seine Sonnenbrille auf die Stirn und William sah in rotgeränderte Augen.
„Das haben Sie ausgezeichnet gemacht!“, lobte William ein weiteres Mal. „Legen Sie sich jetzt ein paar Stunden aufs Ohr. Ich rufe Sie an, wenn ich Persitzky gesehen habe.“
„Okay, Boss.“
Andy tippte sich zum Abschied militärisch knapp an die Schläfe und verließ das Café in Richtung des Museumsausgangs. William legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und betrat den Rampenaufgang, der sich spiralförmig um den Lichthof des kathedralen Gebäudeinnenraumes wand und in die Ausstellungsebenen der höher gelegenen Etagen führte. Er fühlte sich in diesem architektonisch gelungenen Kultur- und Ausstellungspalast wohl, das einen angenehmen Gegensatz zu dem allgegenwärtigen Kommerzhype Bangkoks bot und ihm schon zu FBI-Zeiten eine Oase der Besinnung gewesen war.
William schlenderte durch eine Sonderausstellung, die eine Auswahl des fotografischen Frühwerks des vom thailändischen Volk gottähnlich verehrten, seit nahezu sieben Jahrzehnten amtierenden Königs Bhumibol zeigte. William betrachtete nostalgische Aufnahmen aus der Zeit, als der heute hochbetagte Monarch in jungen Jahren einige Zeit in Europa gelebt hatte: ein erleichtertes, optimistisches Nachkriegs-Paris, die Lavendelblüte in Südfrankreich, natürlich die Schweizer Alpen mit ihren schneebedeckten Gipfeln. Schließlich ein behagliches, schwarz-weißes Lausanne, wo der junge Bhumibol studiert hatte.
William setzte sich auf eine lederbezogene Bank. Die Person auf Andys Observationsfotos hatte ohne Zweifel Mazzinis Physiognomie. Die Augenpartie hatte Andy recht ordentlich erwischt, obwohl die zweidimensionale Ansicht für William nicht aussagekräftig genug war. Schließlich gab es den verkrüppelten Finger, auf den in seinem Dossier immer wieder hingewiesen wurde. William LaRouche blickte hinüber zu einer Fotografie, die einen Sonnenaufgang über dem Genfer See zeigte. Der junge König hatte die zuversichtliche Stimmung eines jungfräulichen Tagesanbruchs gekonnt eingefangen, obwohl ihn an diesem Ort ein schwerer Schicksalsschlag getroffen hatte, als er 1948 bei einem Autounfall ein Auge verlor und sich eine unheilbare Gesichtslähmung zuzog.
Penelope hatte bewusst ein paar Tage nach dem denkwürdigen Telefonat mit Melinda Rodriguez und Jonathan Robson verstreichen lassen. Die Justizministerin hatte sie unmissverständlich aufgefordert, sich William LaRouches anzunehmen. Im Auftrag der vielleicht nächsten Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika griff Penelope nun zum Telefon.
„William?“
„Wie geht es Ihnen, Penelope?“
„Haben Sie heute Abend schon etwas vor? Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang und anschließend gebratenen Heuschrecken, die wir mit ein paar Gläsern Singha-Bier hinunterspülen?“
„Ich trinke keinen Alkohol mehr. Sie müssen sich auch nicht um mich kümmern. Ich bin ein großer Junge, der alleine auf sich aufpassen kann. Ich wette, da steckt Jonathan dahinter“, bremste William die Juristin aus. Im gleichen Moment ärgerte er sich über seine schroffe Art, mit der er sich eigentlich nur selbst daran erinnern wollte, dass ihn sein Verlangen nach dieser Frau von seiner Arbeit ablenkte und zudem chancenlos war.
„William, bleiben Sie cool. Die Ministerin höchstpersönlich hat’s angeordnet. Wenn Sie sich nicht mit mir treffen, beißt Melinda mir die Ohren ab.“
„Was reden Sie für einen Unsinn! Ich hatte gerade das Telefon in der Hand und wollte Ihnen ein Treffen vorschlagen. Wir sind möglicherweise Mazzini auf der Spur. Sind Sie noch im Büro? Ich kann in zwanzig Minuten bei Ihnen sein.“
Kurz nach sechs betrat William die Goldstein-&-Schulman-Niederlassung. Nup, die hinter der Rezeption werkelte, rief ihm zu, dass Penelope in ihrem Büro am Ende des Flures zu finden sei. William lief den Gang hinunter, vorbei an einem hell erleuchteten Konferenzraum, in dem ein halbes Dutzend hemdsärmeliger Männer ohne Krawatten über Aktenordnern und vor eingeschalteten Notebooks brütete. Dazwischen farbenfrohe Akzente setzend: Softdrinkdosen, Kaffeetassen und Pappschachteln mit Pizzaresten. Es roch nach mediterranen Kräutern und dem ganz großen Geld.
„Sind Sie bereit?“
Penelope hatte ihr Businesskostüm gegen Jeans und eine pinkfarbene Bluse getauscht und wirkte auf William noch attraktiver als bei ihrer ersten Begegnung vor wenigen Tagen.
„Bereit? Wozu? Wir müssen über Mazzini reden.“
„William, entspannen Sie sich. Wir drehen eine kleine Runde. Dann lade ich Sie zum Essen ein. Dabei kann der Spürhund dann die Neuigkeiten vom Fuchs loswerden.“
William fügte sich. Warum auch nicht, Mazzini war aller Voraussicht nach bereits eingekreist und sie waren schließlich Partner in einem sehr speziellen Fall, der sich offenbar der Aufmerksamkeit höchster politischer Kreise in Amerika erfreute. Selbst die Justizministerin schien sich Sorgen um sein Wohlergehen zu machen.
Mit etwas Glück ergatterten sie ein Taxi, das sie trotz Feierabendverkehrs in vertretbarer Zeit zur Taksin-Brücke chauffierte, wo sie ein Expressboot zum Pak Khlong Talat, dem beliebten Obst-, Gemüse- und Blumenmarkt, nahmen. Die meisten Händler, die ihre Geschäfte regelmäßig in den Vormittagsstunden erledigten, hatten ihre Waren bereits zusammengeräumt und geschlossen. Wie gewöhnlich verwandelte sich diese Gegend nach Sonnenuntergang in eines der dubiosen Nachtmarkt-Biotope Bangkoks, in einen Basar für legalen Billigramsch und illegale Nachahmerprodukte aller Art. Verblendete Touristen wähnten sich im Discount-Paradies, abgebrühte Verkäufer spielten das Feilschen um Cent-Beträge mit und Straßenköter legten sich unbeirrt dort zur Ruhe, wo das Gedrängel am größten war.
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