Ein aufgeregtes Murmeln ging durch die Reihen. Die schreibenden Journalisten setzten die Sprachaufnahmefunktion ihrer Mobiltelefone in Gang. Der Kameramann nahm Claudia Bächle-Malvert ins Visier, die grimmig ins Objektiv starrte und das Wenige wiederholte, was sich unter den Journalisten sowieso schon wie ein Lauffeuer verbreitet hatte.
„Bitte folgen Sie mir!“
Arusa Pisuphans Privatsekretär öffnete die zweiflügelige Tür zu einem großzügigen Empfangszimmer. „Direktor Pisuphan wird Ihnen in wenigen Minuten zur Verfügung stehen. Nehmen Sie bitte Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
„Danke. Im Moment nicht.“
„Wie Sie wünschen.“ Der Sekretär verbeugte sich und verließ nahezu geräuschlos den Raum.
William blickte sich um. Der Salon war mit antikem chinesischen Mobiliar eingerichtet. Das meiste davon stammte aus der späten Qing-Dynastie des 19. Jahrhunderts. William kannte sich ein wenig aus, er hatte während seiner Zeit als FBI-Agent hier in Bangkok selbst einige Antiquitäten erworben. Die Wände zierten kostbare Seidentapeten. Schwere dunkelrote Samtvorhänge verhinderten den Einfall von Tageslicht und dämpften zugleich die hektischen Geräusche der Außenwelt. Der hohe Raum wurde angenehm von indirektem Licht beleuchtet. Einzelne Punktstrahler hoben wertvolle Porzellanvasen und Rollbilder mit Darstellungen aus der Zeit des kaiserlichen Chinas hervor.
Penelope hatte erwähnt, dass Arusa Pisuphan der chinesischen Minderheit Thailands angehörte, die sich trotz erfolgreicher Assimilierung überwiegend den Werten und Traditionen des Konfuzianismus verpflichtet fühlte. Wie die meisten Thai-Chinesen hatte Pisuphan seinen ursprünglichen chinesischen Familiennamen abgelegt und stattdessen einen thailändischen angenommen. Nachdem William eine Weile herumgewandert war und die Einrichtung bewundert hatte, setzte er sich in einen der Sessel aus schwarz gefärbtem Birnbaumholz, die sich um einen halbhohen Lacktisch mit Perlmuttintarsien gruppierten.
Die Klimaanlage summte dezent und William entdeckte zwei unscheinbare Überwachungskameras, die jeden Winkel des Raumes erfassten. Ließ ihn sein Gesprächspartner womöglich absichtlich warten und dabei beobachten? Offenbar war die Sache doch nicht so eilig, wie Penelope es ihm in ihrem letzten Telefonat weiszumachen versucht hatte.
William hatte seinen Erholungsurlaub auf Koh Samui zwei Tage früher als geplant beendet und war nach Bangkok geeilt, wo ihn Penelope am Flughafen in Empfang nahm. Nach einer zunächst warmherzigen Begrüßung konnte die vielbeschäftigte Juristin nur schlecht verbergen, wie sehr sie unter Zeitdruck stand. Als sie Williams Ernüchterung spürte, verschob sie kurzerhand den Nachfolgetermin und lud ihn zu einem Kaffee ein, bei dem sich ihre Angespanntheit nur unwesentlich verlor. Obwohl Penelopes Lächeln, wie damals vor einem Jahr, immer wieder aufblitzte und sie sich mehrmals auf die gewohnte vertraute Weise berührten, empfand William eine Distanz, die ihn auf schmerzliche Weise erkennen ließ, dass der Zauber ihrer Beziehung verflogen war. Während Penelope im Telegrammstil noch einmal die wichtigsten Informationen zum Auftragsangebot ihres Klienten vortrug, nippte William an seinem Getränk und hing ganz anderen Gedanken nach. War es eigentlich zwangsläufig, dass selbst einer von ganzem Herzen empfundenen Seelenverwandtschaft eine Art Verfallsdatum innewohnte, das umso näher rückte, je kleiner die Schnittmenge des gemeinsam erlebten Alltags wurde?
William riss sich von seinen Grübeleien los. Er hatte Penelope versprochen, dass er sich das Anliegen ihres Klienten anhören würde, und sein Blick streifte noch einmal durch den Salon. Eine solche Pracht hatte er nicht erwartet, als er im Gassengewirr von Bangkoks Chinatown schließlich die angegebene Adresse, einen grauen, unansehnlichen Betonklotz, an dessen Fassade deutliche Spuren der Verwitterung erkennbar waren, gefunden hatte. Endlich öffnete sich die Tür.
„Guten Tag, Mr. LaRouche. Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Hat man Ihnen eine Erfrischung angeboten?“
„Guten Tag, Khun Arusa“, grüßte William zurück und verwendete dabei die in Thailand gebräuchliche Formel der Anrede, bei der die Bezeichnung Herr mit dem Vornamen des Angesprochenen kombiniert wird. „Ja, vielen Dank. Im Augenblick möchte ich wirklich nichts.“
William hatte sich erhoben und hielt dem Gastgeber, wie in Asien üblich, mit beiden Händen seine Visitenkarte entgegen. Pisuphan wirkte deutlich jünger, als es das von Penelope erwähnte Alter von Mitte achtzig vermuten ließ. Das dichte, pechschwarze Haupthaar zeigte keinerlei Alterungserscheinungen, die Gesichtshaut erschien straff und weitgehend faltenfrei. Lediglich ein paar dunkelbraune Hautverfärbungen auf den Handrücken verwiesen auf ein fortgeschrittenes Lebensalter. Pisuphan war von zierlicher Statur, einen guten Kopf kleiner als William und strahlte eine ungebrochene Lebenskraft aus. Das Auffälligste an ihm war jedoch sein Clark-Gable-Bärtchen mit dem eleganten Abschwung an den äußeren Enden und dem akkurat rasierten Abstand zur Oberlippe. Einerseits schien dieses Bartdesign ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein, andererseits verstärkte es, im Einklang mit dem klassisch geschnittenen dreiteiligen Anzug samt Einstecktuch, die Seriosität des Gastgebers.
„Mr. LaRouche, nehmen wir Platz.“ Pisuphan studierte Williams Visitenkarte. „Wie ich sehe, befindet sich Ihr amerikanisches Büro in Manhattan. Sehr schön. Mrs. Owens hat Sie empfohlen und Ihre Erfahrung erwähnt. Sie sind bereits mit der Situation vertraut?“
„Nicht im Detail. Mrs. Owens hat angedeutet, dass Sie sich Sorgen um Ihre Tochter Suwannee machen, mit der Sie seit geraumer Zeit keine persönliche Verbindung mehr hatten.“
„So ist es.“
„Wann hatten Sie die den letzten Kontakt mit Ihrer Tochter?“
„Vor exakt fünf Tagen.“
Pisuphan reichte William ein eng bedrucktes Blatt. „Hier finden Sie sämtliche Telefongespräche, die meine Tochter und ich in den letzten Wochen geführt haben. Wir haben mindestens einmal täglich telefoniert. Ich lege Wert auf diese Regelmäßigkeit und Suwannee ist in diesen Dingen sehr zuverlässig.“
„Welchen Charakter hat Ihre Tochter? Wo liegen ihre Schwächen? Wer sind ihre Freunde? Hat sie eine feste Beziehung? Wenn ich Ihren Auftrag annehme, brauche ich eine detaillierte Beschreibung der Gewohnheiten und Vorlieben Suwannees. Lassen Sie dabei nichts außer Acht, auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheint oder unangenehm sein sollte.“ William hatte noch längst nicht entschieden, ob er Pisuphans Angebot annehmen wollte. Bis ein derartiges Persönlichkeitsprofil vorlag, blieb ihm sicher genügend Bedenkzeit, um zu überlegen, wie er eine solche Recherche mit seinen New Yorker Verpflichtungen unter einen Hut bringen konnte.
„Wir haben bereits alles für Sie zusammengestellt.“ Pisuphan überreichte William eine Mappe. „Sie finden hier auch eine Sammlung von Fotografien. Suwannee verändert von Zeit zu Zeit gerne ihr Äußeres. Sie wissen ja, wie junge Mädchen heute so sind …“
Überrascht nahm William die Unterlagen entgegen und registrierte dabei ein ungeduldiges Flackern in Pisuphans Blick. „Sie möchten keine Zeit verlieren. Warum ist Ihre Tochter in Deutschland?“
„Sicher hat Ihnen Mrs. Owens verraten, dass Suwannee mein einziges Kind ist. Meine ersten beiden Ehen verliefen nicht sonderlich erfolgreich. Erst mit meiner dritten Frau Constanze, eine Österreicherin aus Wien, hatte ich das Glück, Vater zu werden. Leider ist sie vor ein paar Jahren von uns gegangen. Zu ihren Lebzeiten hat Constanze stets Wert darauf gelegt, dass unsere Tochter auch ihre deutsche Muttersprache beherrscht und die europäische Kultur kennen und verstehen lernt.“
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