„William, du hast mir erzählt, dass du einigermaßen deutsch sprichst. Deine Mutter stammt doch aus Deutschland. War es nicht so?“ William entsann sich, dass er etwas in dieser Art erwähnt hatte, als sie sich in langen nächtlichen Gesprächen ihre Vergangenheit erzählt hatten.
„Ich spreche eigentlich nur mit meiner Mutter deutsch“, schränkte William ein, „aber ich denke, ich komme dabei ganz gut zurecht.“
„Das hört sich prima an“, lobte Penelope.
„Gibt es etwas zu übersetzen oder sucht einer deiner reichen Klienten einen Reiseführer für einen Trip nach good old Germany?“
„Mein Klient sucht seine Tochter. Sie studiert in Deutschland. In Heidelberg. Deine Mutter kommt doch aus Heidelberg, wenn ich nicht alles durcheinandergebracht habe?“
William musste schmunzeln. Nur Penelopes äußere Erscheinung war asiatisch. Ihre amerikanischen Adoptiveltern hatten sie als Säugling aus einem thailändischen Waisenheim adoptiert. Sie war in Washington aufgewachsen und vom Scheitel bis zur Sohle Amerikanerin. Er hatte ihr tatsächlich erzählt, dass seine Mutter aus Heidelberg stammte. Welcher Amerikaner kannte schon das verschlafene Rebheim am Rande des südlichen Odenwaldes, in dem sie wirklich aufgewachsen war.
„Es war doch Heidelberg? Nicht wahr? William, bist du noch am Apparat?“
Penelope hatte aus dem deutschen Heidelberg ein amerikanisches Haidelbörg gemacht, was William an seinen Vater erinnerte, der diesen Namen ebenso ausgesprochen hatte. „Heidelberg. Es heißt Heidelberg“, William betonte dabei das „e“ in der letzten Silbe.
„Okay. Haidelbör g“, wiederholte Penelope und begann das Problem ihres Klienten zu erläutern. William hörte zu, sein Interesse an Penelopes Ausführungen hielt sich jedoch in Grenzen. Er war vielmehr überrascht, was die mehrmalige Erwähnung von Heidelberg, einem Ort, den er noch nie besucht und von dem er keine rechte Vorstellung hatte, in ihm auslöste. Vor seinem inneren Auge tauchte unvermittelt seine Mutter auf. Doris LaRouche, geborene Klingenberger aus Rebheim bei Heidelberg, schien sich in den Momenten, in denen Penelopes Worte an ihm vorbeirauschten, in seinem Coca-Cola-Glas zu spiegeln. Er riss sich von diesem Bild los und hörte, dass Penelopes Klient seine Tochter zu einem Studienaufenthalt nach Heidelberg geschickt hatte. Bereits seit Tagen versuchte der Vater nun vergeblich seine Tochter zu erreichen. Da der Mann ausländischen Behörden grundsätzlich misstraute und zudem Zweifel an der Effizienz der deutschen Polizei in sich trug, hatte er sich an Penelope, die Niederlassungsleiterin der Goldstein-&-Schulman-Kanzlei in Bangkok, gewendet.
„Ich glaube, das ist keine große Sache. Das Mädchen ist Mitte zwanzig. Vermutlich genießt sie noch einmal in vollen Zügen ihre Freiheit, weit weg vom strengen Vater und mit großem Abstand zu den Aufgaben, die sie bei ihrer Rückkehr nach Bangkok erwarten. Mein Klient ist sehr einflussreich. Vermutlich würde in einer ähnlichen Situation in Thailand ein Anruf von ihm genügen, und die Royal Thai Police würde alles stehen und liegen lassen und sich mit Mann und Maus auf die Suche nach seiner Tochter konzentrieren“, mutmaßte Penelope. „Also, wenn du Lust auf einen gut bezahlten Abstecher in die alte Heimat deiner Mom hast …“
„Was sind das für Aufgaben, die auf das Mädchen in Bangkok warten? Wo ist der Haken an der Sache?“ In Williams Gehirnwindungen trieben erneut die drei Silben Hei-del-berg ihr Unwesen.
„Du fragst nach dem Haken? In der Tat gibt es da so etwas wie einen Haken: Mein Klient ist bereits Mitte achtzig und wenn er einmal nicht mehr lebt, wird seine Tochter das reichste Mädchen Thailands sein. Der Vater hat Sorge, dass seinem Kind etwas zugestoßen sein könnte. Der Mann ist mächtig. Natürlich hat er nicht nur Freunde. Es gibt Konkurrenten, die ihm das Leben schwer machen wollen.“
William blieb schweigsam. Vielleicht ein wenig zu lange.
„Hallo? William, bist du noch da?“
„Ja, ich bin noch da.“
Er nickte der netten Kellnerin zu, die ihm mit Gesten verständlich machte, dass sie sein Essen in der Küche warmgestellt hatte. „Ehrlich gesagt passt ein solcher Auftrag überhaupt nicht in mein Programm. Ich bin Anfang kommender Woche wieder in New York und habe dort einiges zu tun. Andererseits …“, William zögerte, „Deutschland, Heidelberg … das hört sich interessant an. Gib mir eine Nacht zum Überlegen. Ich melde mich morgen Vormittag bei dir.“
Claudia Bächle-Malvert, die Leiterin des Dezernats für Kapitaldelikte, und ihr Stellvertreter Malte Brettschneider waren aus Heidelberg, dem ausgelagerten Standort ihrer Abteilung, im Mannheimer Polizeipräsidium erschienen und betraten einen Konferenzraum, in dem noch die feuchtklamme Luft der vergangenen Nacht hing. Obwohl es tagsüber noch überwiegend freundlich und sonnig war, wurde es in den Nächten schon empfindlich kühl und der erste Nachtfrost schien nicht mehr fern.
Die Kriminalrätin zögerte, ihren Mantel und die Mütze abzulegen. Der Hausmeister hatte erst vor wenigen Minuten die angekippten Fenster geschlossen und die Heizkörper aufgedreht. Immerhin standen schon zwei Thermoskannen Kaffee, Pappbecher und mehrere Schalen mit Gebäck auf dem Besprechungstisch. Auch die Pressemappen lagen in ausreichender Menge bereit. Claudia schenkte sich einen Kaffee ein, der tiefschwarz dampfte und nur kleine Schlucke zuließ. Dann erst schälte sie sich aus ihrem Loden- und Strick-Outfit und ihre üppigen weiblichen Rundungen kamen deutlicher zum Vorschein.
„Scheißherbst. Tut meinem Bein gar nicht gut“, beschwerte sie sich, fuhr sich mit den Fingern durch ihre brünette Kurzhaarfrisur und frischte mit einem Fettstift den Schutz ihrer zu dieser Jahreszeit stets zu trockenen Lippen auf.
„Es ist bald Winter, dann geht’s dir wieder besser“, versuchte Malte seine Chefin aufzumuntern. In Kürze war die traditionelle Statistik-Pressekonferenz angesetzt, auf der die Anzahl der unterschiedlichen Delikte und Verbrechen des Vorjahres sowie deren Aufklärungsquoten der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Auch wenn noch kein einziger Journalist erschienen war, hörte Claudia schon jetzt die süffisanten Fragen, weshalb die Ergebnisse für den mittlerweile weit zurückliegenden Berichtszeitraum mit einer derartigen Verspätung bekannt gegeben wurden. Sollte sie das übliche Lamento der Überlastung des öffentlichen Dienstes anstimmen, was diesmal in der Tat mehr als berechtigt war? Mitarbeiter sämtlicher Polizeidienststellen waren seit Monaten in die Registrierung der Flüchtlingsströme aus dem mittleren Osten und aus Afrika eingebunden. Zehntausende von Überstunden hatten sich aufgetürmt. Zunehmend meldeten sich Kollegen wegen Erschöpfung dienstunfähig, selbst Polizeidirektor Kachelmann hatte es erwischt. Mit kaum hörbarer Stimme hatte der Behördenchef Claudia zu nachtschlafender Zeit mitgeteilt, dass er selbst unmöglich die Pressekonferenz leiten könne und sie sich, in ihrer Funktion als seine zweite Stellvertreterin, stattdessen mit den Medienvertretern herumschlagen dürfe.
Claudia fühlte sich ausgelaugt. Sie plagten Phantomschmerzen, gegen die es kaum wirksame Medikamente gab, und die Prothese hatte ihren Unterschenkelstumpf wundgescheuert. An ihrem ursprünglich freien Wochenende war sie am Sonntagmorgen in den kleinen Ort Rebheim geeilt, wo eine Leiche gefunden worden war. Es war das erste vollendete Kapitalverbrechen des laufenden Jahres im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Mannheim. Die Spurensicherung vor Ort, die Zusammenstellung einer Sonderkommision, die Auswertung der ersten Erkenntnisse und die Kontaktaufnahme zur Gerichtsmedizin – das alles hatte sich bis weit in die Nacht zum Montag hingezogen und nur drei unruhige Stunden Schlaf ermöglicht.
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