William sog den letzten Schluck aus der Kokosnuss. In Amerika ließ ihm seine Arbeit kaum Zeit für solch sentimentale Gedanken, was auch sein Gutes hatte. Auf jeden Fall war er mit Penelope in der kommenden Woche in Bangkok zu einem nostalgischen Abendessen verabredet. Anschließend würde er seinen Kurzurlaub in Thailand beenden und den Rückflug nach New York antreten. Seine Sekretärin hatte sicherheitshalber ein Flugticket ohne Umbuchungsmöglichkeit organisiert, schließlich warteten in Amerika interessante Aufträge. William zündete sich eine weitere Zigarette an und überlegte, ob Penelope sich über ein Souvenir von Koh Samui freuen würde.
Michael Kühnle stieg, wie an jedem Morgen, die Windungen der Silvanerstraße hinauf. Er passierte den Neubau der Winzergenossenschaft, legte am Aussichtspunkt unterhalb der Guldenburg eine erste Verschnaufpause ein und stieß einen schrillen Pfiff aus. Diabolo unterbrach daraufhin die Verfolgung einer aufgenommenen Fährte, hob den Kopf, stellte die Ohren auf und fand den Blick seines Herrchens. Dann trabte der Schäferhund den oberen Teil des Weges zurück.
„Sodele, do kumscht her un hogscht di hi.“
Die Kirchturmuhr von Sankt Michael zeigte kurz vor halb acht. Hund und Herrchen blickten einträchtig von der Anhöhe über das verschlafene Rebheim an der badischen Weinstraße. Die beiden schienen die sonntägliche Ruhe zu genießen.
„Was wolle mir denn heut Middach Feines esse? Mir hädde do noch zwee Brotwörscht un Kadoffelpannekuche“, schlug der alleinstehende Kühnle vor, als sie wenig später die Abkürzung zum Madonnenberg hinaufkletterten. Diabolo war folgsam bei Fuß geblieben und warf seinem Herrchen immer wieder einen kurzen Seitenblick zu.
„Alla hopp, dann spring mol widda!“
Michael Kühnle war viele Jahrzehnte Hauptmeister der Schutzpolizei gewesen. Als ihm nach etlichen Bandscheibenvorfällen ein Teil seines Rückgrats versteift wurde, hatte man ihm bis zu seiner Pensionierung die Leitung der Heidelberger Polizeihundestaffel übertragen. Diabolo, der sich im besten Hundealter befand, hatte ihn schließlich in den Ruhestand begleiten dürfen und Kühnle wollte den Tatendrang seines ehemaligen Diensthundes nicht durch seine eigene eingeschränkte Beweglichkeit lähmen. Und so überquerten die beiden Frühaufsteher in unterschiedlichem Tempo die mit Morgentau bedeckten Streuobstwiesen und erreichten den Höhenweg des Madonnenbergs. Ihr Ziel waren die Weingärten der südöstlichen Hanglage, über die bereits die Strahlen der aufgehenden Sonne strichen. Kühnle liebte die Jahreszeit, wenn der Sommer sich verabschiedete und der Herbst heranschlich. In wenigen Tagen würde die Hauptlese des Spätburgunders beginnen. Je näher sie den Weingärten kamen, desto deutlicher stieg ihm der fruchtig-säuerliche Duft der violettblauen Trauben in die Nase. Auch Diabolo hob die Nase und verharrte einen Moment. Dann sah Kühnle seinen Hund in einer Rebzeile verschwinden. Ein heller Pfiff durchschnitt die Stille. Ein weiterer folgte.
„Diabolo!“
Kühnle war es gewohnt, dass sein Hund, seit dieser keine dienstlichen Pflichten mehr zu erfüllen hatte, seine Freiheiten durchaus eigenwillig nutzte. Was den gutmütigen Pensionär üblicherweise nicht weiter besorgte, war mit Beginn der Weinlese eine andere Sache. Wenn sich in den Weingärten Vogelschwärme und andere Erntediebe über die Trauben hermachten, wurde der eine oder andere Winzer schon nervös. Da wurde nicht lange gefackelt und gelegentlich sogar scharf geschossen.
„Diabolo! Kumsch jetzt odder kumsch net?“
Endlich hatte auch Kühnle die steil ansteigende Rebzeile erreicht, in die sein Hund gewitscht war. Als er sich an Diabolo herangearbeitet hatte, sah er dessen Hinterteil hin und her schwingen und Hinterläufe, die sich in den feuchten Erdboden gruben. Diabolo schien in der nicht einsehbaren benachbarten Rebreihe mit etwas beschäftigt zu sein, das seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit beanspruchte. Kühnle schob das Blattwerk der Reben beiseite. Ein Schreck durchfuhr den ehemaligen Polizisten. Sein Blick fiel auf einen unbekleideten menschlichen Körper. Kühnle hatte in seinem Leben schon so manchen Toten gesehen, aber noch niemals zuvor in ein derartig entstelltes Gesicht geschaut. Tief klaffende Schnitte zogen sich von den Ohren und dem Kinn über die Nasenwurzel bis hinauf zum Haaransatz. Geronnenes Blut hatte das Antlitz in eine dunkelrote Krater- und Krustenlandschaft verwandelt, die teilweise noch von Raureif überzogen war und jede Menschenähnlichkeit verloren hatte. Das Schlimmste waren jedoch die Augenhöhlen. Man hatte dem Toten die Augäpfel herausgerissen und die Reste faseriger Nervenverbindungen und Muskelstränge hingen gespenstig aus den leeren Schädelöffnungen heraus.
Kühnle schaute sich um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Natürlich wusste er, wie ärgerlich es für die Kollegen der Kriminalpolizei war, wenn am Fundort einer Leiche die Aktivitäten der Entdecker möglicherweise aufschlussreiche ältere Spuren verwischten. Trotzdem konnte er seiner professionellen Neugier nicht widerstehen. Der Boden des Weinberges war rutschig und steil. Michael Kühnle suchte Halt an einem der Drahtspaliere, an denen die Rebtriebe aufgeheftet waren, und sah noch einmal durch das Blattgewirr. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Der schlanke, mittelgroße nackte Körper lag auf dem Rücken. Kühnle sah schmale Schultern und eine unbehaarte Brust. Als sein Blick hinab zum Geschlecht der männlichen Leiche wanderte, verspürte er einen Brechreiz. Der Penis fehlte. Nur ein blutverkrusteter Stumpf war übrig geblieben. Hatte man den Mann hier im Weinberg abgeschlachtet? War er möglicherweise bei lebendigem Leib verblutet? Kühnle wendete sich ab, zog das Mobiltelefon aus der Jacke und wählte die Nummer der Polizei.
William hatte sich für ein Restaurant am Jachthafen entschieden und gegrillte Riesengambas und Tom-Kha-Gai, eine mild-scharfe Kokossuppe mit Hühnerfleischeinlage, bestellt, als sein Mobiltelefon vibrierte. Er erkannte die Nummer von Penelopes Büro in Bangkok. Es war acht Uhr abends und eine Dreimannkapelle spielte den Uraltschlager „Dancing in the Dark“, wobei der schwergewichtige thailändische Sänger die Stimme Frank Sinatras verblüffend originalgetreu imitierte. William stöpselte die Ohrhörer ein und zog sich an die Bar zurück, wo der Geräuschpegel ein wenig geringer zu sein schien.
„Hallo, Penelope. Kannst du mich hören …?“
„Ja. Ich höre dich. Und ich höre Frank Sinatra. Amüsierst du dich gut?“
„Kann nicht klagen! Prima Wetter. Gutes Essen. Eiskalte Cola und ein dicker, brauner Frankie Boy singt Songs aus der Heimat.“ William versuchte seine Freude über Penelopes Anruf einigermaßen zu verbergen. „Wir sehen uns doch nächste Woche?“
„Klar! Der Termin steht. Aber ich muss vorher mit dir reden. Es ist dringend.“
Penelope wirkte konzentriert und geschäftsmäßig. William erinnerte sich, dass die Juristin gerne Beruf und Freizeit auseinanderhielt.
„In Ordnung. Ich hoffe, es stört unser Gespräch nicht zu sehr, wenn der Koh-Samui-Frankie inzwischen weitersingt. Also: Ich höre!“
„William, ich freue mich echt auf unser Wiedersehen in ein paar Tagen. Entschuldige bitte, dass ich dich in deinem Urlaub belästige, aber einer unserer Klienten hat ein Problem. Ich möchte dich um etwas bitten.“
„Mach’s nicht so spannend. Wie kann ich helfen?“
William war in entspannter Urlaubsstimmung, auf ihn wartete ein leckeres Abendessen, der Rückflug nach New York war gebucht und sein Hilfsangebot leichtfertig dahingesagt. Egal, dachte er bei sich, wenn Penelopes Anliegen eine telefonische Beratung überschritt, konnte er sich immer noch mit seinen Verpflichtungen in Amerika entschuldigen.
Читать дальше