So sind wir heute, aus biologischer Sicht, in gewisser Weise zum Sklaven der von uns selbst geschaffenen bunten, schnellen, lauten Welt geworden: Unsere körperliche Ausstattung hat sich noch nicht recht anpassen können. Sie reagiert mit der Stressantwort auf Reize und Anforderungen und unterscheidet hier nicht zwischen realen und imaginierten Bedrohungen.
Die Folge ist unübersehbar: die Zunahme von Erkrankungen, die durch die permanente Aktivierung der Stressantwort gekennzeichnet sind – Bluthochdruck, Verspannungen, aber auch Schlafstörungen, Verdauungsstörungen, Erschöpfung, Burn-out. Dabei ist Stress grundsätzlich weder krank noch gesund. Es kommt darauf an, wie wir mit ihm umgehen, ihn empfinden und bewältigen. Dazu gehört, stressauslösende Situationen zu erkennen und einzuordnen, die eigenen Gedanken- und Gefühlsmuster kennenzulernen.
Und es gehört dazu, ganz bewusst Stress körperlich abzubauen und Pausen einzulegen. Die Antilope rennt, der Löwe auch. Der Mensch aber kann in einer belastenden Situation, beispielsweise einer Auseinandersetzung mit dem Vorgesetzen, nicht einfach auf und davon rennen. Die angestaute Energie kann nicht abgebaut werden, die Muskeln verspannen, der Kreislauf wird beansprucht, ohne dass die Belastung anschließend wieder durch körperliche Aktivität abgebaut wird. So werden Sie in diesem Manual auch die Bewegung als Möglichkeit, Stress abzubauen, kennenlernen.
Schließlich muss noch ein dritter, wesentlicher Punkt bedacht werden. In der biologischen Reaktion auf einen Stressor führt der stressauslösende Reiz zunächst zur Erregung (Alarmbereitschaft), dann zur Handlung ( flight or fight , Kampf oder Flucht, wobei Flucht in unserem Beispiel wohl die richtige Entscheidung ist). Ist die Herausforderung überstanden oder das Leistungsziel erreicht, d.h. hat man sich in Sicherheit gebracht oder ist die Beute erlegt, so folgt im biologischen Rhythmus die Entspannungsphase. Nun kehrt wieder Ruhe ein. Der Blutdruck senkt sich, der Puls wird langsamer, man schläft, isst, ruht aus, genießt. Im Schlaf regenerieren sich die Organe wie Leber und Niere, auch das Gehirn, die Ausscheidung wird angeregt. Die Batterien werden wieder aufgeladen.
In der modernen Zeit scheint dies vielfach nicht mehr möglich. Kaum ist die eine Herausforderung bewältigt, wartet schon die nächste. Nach dem Job geht es zuhause mit den Anforderungen der Familie weiter. Man fühlt sich wie im Hamsterrad, ohne ein Ende der Anstrengung in Sicht, ohne Aussicht auf eine verdiente Pause.
Auch hier ist es von entscheidender Bedeutung, aktiv zu werden. Die kurze Stressbelastung, die Herausforderung an sich, der Wunsch und Ehrgeiz, eine Situation gut zu meistern, sind Ansporn und Energiekick, sie versetzen den berühmten Adrenalinstoß, der aus dem täglichen Einerlei und der Lethargie befreit. Problematisch ist jedoch, wenn ein Kick den nächsten jagt und keine Zeit bleibt, dazwischen herunterzufahren und zur Ruhe zu kommen. Wenn der Geist durch Computer, Handy, Fernsehen und Internet auf Hochtouren läuft, der Körper dafür jedoch den ganzen Tag reglos verharrt oder man lediglich von einem Stuhl auf den nächsten wechselt.
Stress ist abhängig von der Dosis, d.h. Dauer, Stärke und Form. Hier gilt: Zu viel ist zu viel und zu wenig ist zu wenig. Noch einmal: Stress macht nicht zwangsläufig krank – entscheidend ist das Ausmaß. Wie Abbildung 2zeigt, braucht der Mensch ein gewisses Maß an Stress, um optimal leistungsfähig zu sein: Ist er unterfordert, d.h. langweilt er sich, wird der Organismus nicht ausreichend beansprucht und hat er keine oder nur wenig kognitive (geistige) Beanspruchung, so kann er nicht optimale Leistungen erbringen. Ist jedoch die Stressausprägung aufgrund von zu vielen Anforderungen, die bewältigt werden müssen, sehr hoch, so fällt die Leistungskurve ab. Körperliche und mentale Prozesse sind davon betroffen. Burn-out kann die Folge sein.

Abb. 2 Yerkes-Dodson-Gesetz
Aus genau diesen Gründen lernen Sie in diesem Manual, gestaltend einzugreifen. Die Welt kann man – zumindest im großen Stil – nicht ändern. Sehr wohl aber können Sie dafür sorgen, dass Sie nicht immer und überall einer Reizüberflutung ausgesetzt sind. Kleine Rückzugspausen, klare Strukturen im Tagesablauf, ein bedachter Umgang mit dem heute ganz normalen „Multitasking“ unserer Zeit, vor allem aber eine innere Ordnung, sich auf das zu konzentrieren, was man gerade tut, helfen dabei.
Neben diesen formalen Aspekten jedoch ist es vor allem der persönliche Umgang, der darüber entscheidet, ob wir etwas als „stressig“ im negativen Sinne empfinden oder nicht. Das kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein, ist aber auch abhängig von der Tagesform. An dieser Stelle nur so viel: Ihre innere Haltung, ihre Einstellung zu sich selbst, Ihre Gefühle entscheiden mit darüber, in welchem Maße Sie sich gestresst, fremdbestimmt, erschöpft oder ausgeliefert fühlen. Oder eben, inwieweit Sie die Reize regulieren, kontrollieren, nutzen und sogar genießen können. Auch darum wird es in diesem Manual gehen.
Jeder von uns hat Stress und Stressreaktionen mit Sicherheit schon an sich selbst beobachten können. Die konkrete Ausprägung sogenannter Stresswarnsignale ist allerdings individuell verschieden. Und sie umfasst weitaus mehr Symptome als den sprichwörtlichen Schweiß auf der Stirn, nervöses Herzklopfen oder Schlaflosigkeit.
So können Stresswarnsignale auf fünf unterschiedlichen Ebenen auftreten (s. Tab. 1): der körperlichen Ebene, der emotionalen Ebene (Gefühlsebene), der kognitiven Ebene, dem Verhalten und dem Sozialverhalten.
Tab. 1 Stresswarnsignale
Ebene |
Beispiele für Stresswarnsignale |
körperliche Symptome |
Muskelverspannungen |
Muskelzucken, Zittern |
Zähneknirschen |
Schweißausbrüche |
Kopfschmerzen |
Schwindel, Ohnmacht |
Schluckbeschwerden, Kloßgefühl |
Bauch-/Magenschmerzen |
Übelkeit/Erbrechen |
Durchfall |
Verstopfung |
häufiges/dringendes Wasserlassen |
Unlust (auch: sexuell) |
Müdigkeit |
Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme |
Herzklopfen |
Hitzewallungen |
Gesichtsröte |
Schmerzen/Schmerzzustände |
Klingelgeräusche im Ohr/Taubheit |
emotionale Symptome |
Aggressionen, Reizbarkeit |
Sorgen, Depressionen (unglücklich sein) |
Angst und Furcht |
Anspannung, innere Unruhe |
Langeweile, Interessenlosigkeit |
Gefühl von Hilflosigkeit, Einsamkeit |
Gefühl fehlender Kontrolle |
Druckgefühl |
kognitive Symptome |
Konzentrationsschwäche |
Gedächtnisprobleme |
negative Gedankenfärbung (z.B. Angst, Zynismus, Feindseligkeit) |
Humorlosigkeit |
Verlust von Kreativität |
Entscheidungsschwäche |
Fluchttendenzen |
Verhaltenssymptome |
Vermeidungsverhalten |
Schlafprobleme |
Verabredungen nicht einhalten |
Vereinbarungen nicht erfüllen |
zappelig sein, weinen, schreien |
angestrengt sein/wirken (z.B. Mimik) |
Faust zusammenballen |
ungesundes Ess-, Trink- und Rauchverhalten (auch: heftiges Kaugummikauen) |
soziales Verhalten |
sozialer Rückzug |
Bedürfnis nach Nähe (negativ) |
klammern |
nicht allein sein können |
ungesunde Beziehungen |
„falsche Freunde“ |
schwelende Konflikte |
Abnahme der Beziehungsqualität |
Fallbeispiel
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