Der Bildschirm wurde auf einmal schwarz und Danielle war verschwunden. Mason sah seine Reflektion im Monitor. Er fuhr sich durch die Haare und versuchte, einige Strähnen zu glätten. Er sollte mal wieder zum Friseur.
Nicht mal eine Minute später wählte ihn Danielle von Neuem an. Er nahm ab.
»Alles klar bei dir?«
»Ja, das war Mum. Sie hat mir frisch gepressten O-Saft gebracht. Ich glaube, sie wollte eher sehen, ob ich durchs Fenster geflohen bin.«
»Wie geht es denn zu Hause? Hat sie noch etwas gesagt?«
»Kein Wort. Als wäre das alles nicht passiert.«
Das wäre Mason auch am liebsten, aber er konnte das Geschehene nicht rückgängig machen.
»Wann wollten Randy und Olivia kommen?«, fragte Danielle.
Mason sah auf die Wanduhr, die sie aufgehängt hatten. »Kann nicht mehr allzu lange dauern. Ich bin echt gespannt, was in dem Film zu sehen ist. Zum Glück besaß Billy einen Super-8-Projektor.« Er deutete hinter sich. Um die Zeit zu überbrücken, bis Olivia und Randy kamen, hatte Mason schon mal alles aufgebaut und eine Wand freigeräumt, die sie als Leinwand nutzen konnten. »Wenn ich wüsste, wie ich den Film einlegen muss, hätte ich schon längst reingeschaut.«
»Ich bin auch ziemlich gespannt, nachdem wir so viel daran gesetzt haben, das Ding zu bekommen.«
Mason rieb sich durch den Nacken und beugte sich näher an den Monitor. »Ja, darüber wollte ich auch mit dir sprechen … wegen unseres Kusses …«
Danielle zog eine Augenbraue nach oben und wartete. Wie sollte Mason das formulieren. Er mochte Danielle, aber nicht so. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihr was anzufangen. Vielleicht, weil sie nun im King-Fall zusammenarbeiteten oder weil ihm die Freundschaft zu ihr zu wichtig geworden war, um sie durch eine Beziehung zu gefährden. »Ja, also …«, stammelte er weiter. Ob sie sauer sein würde? Oder war es ihr sogar recht, wenn sie das Thema fallen lassen würden?
Jetzt schmunzelte sie und beugte sich ebenso nah an die Webcam. »Was in Vegas geschieht, bleibt in Vegas. Wie klingt das?«
»Du meinst, wir werden nie wieder ein Wort darüber verlieren?«
»Sieh es als taktischen Schachzug und hake die Sache einfach ab, Collister.« Sie nahm ein Glas mit Orangensaft vom Schreibtisch und prostete ihm zu.
Er nickte, griff nach seiner Pepsi und tat es ihr gleich. »Einverstanden.«
»Mason? Wir sind wieder da«, rief Randy von oben.
»Olivia und Randy kommen gerade«, sagte Mason zu Danielle, die sicher Randys Rufen nicht gehört hatte.
»Sehr gut, dann kann es endlich losgehen.«
Keine Minute später kamen die beiden die Treppe hinunter.
»Da seid ihr ja endlich«, sagte Mason.
»Ja«, sagte Randy und warf seine Tasche auf den Tisch. »Olivia hat ein wenig länger mit der Verabschiedung gebraucht.« Er formte einen Kussmund.
»Nimm dich bloß in Acht, Steinbeck«, sagte Olivia und gab ihm einen Schubs.
»Will ich wissen, worum es geht?«, fragte Mason.
»Weiberkram«, sagte Randy.
»Der nicht zufällig Chris Archer heißt?«, ertönte Danielles Stimme aus dem Rechner.
Olivia beugte sich über den Monitor. »Oh, hi. Das ist auch ’ne Art, an unseren konspirativen Sitzungen teilzunehmen.«
»Genau. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten«, sagte Danielle. »Und was ist jetzt mit diesem Archer-Typ?«
»Gar nichts«, sagte Olivia. »Wir haben uns nur nett unterhalten.«
»Pah«, machte Randy. »Du hättest die zwei sehen sollen, denen sind die Herzchen förmlich aus den Augen gehüpft.«
»Willst du eigentlich noch mal eins auf die Nase?«, fragte Olivia und formte die Hand zur Faust. »Mal sehen, ob du das auch mit Bachblüten behandeln kannst.«
Danielle kicherte und Mason rollte die Augen. »Da das jetzt geklärt ist, können wir endlich loslegen? Ich habe Hunger und zu Hause wartet frische Pizza.«
»Du hast immer Hunger«, sagte Randy.
»Stimmt, aber jetzt habe ich besonders großen Hunger, also?«
»Ach, bevor ich es vergesse«, warf Danielle ein: »Es kann sein, dass ich euch zwischendrin wegklicken muss. Mum kommt alle halbe Stunde in mein Zimmer.«
»Okay«, sagte Randy und schob den Film in den Projektor. »Dann lass uns mal sehen, was auf dem Band ist.«
*
Am anderen Ende der Stadt
Er lächelte.
Die Gedenkfeier war der perfekte Moment gewesen, um unbemerkt an das Material zu kommen. Da hatte der alte Knacker das Ding doch tatsächlich bei seiner Filmsammlung versteckt gehabt. Er muss sich sehr sicher gefühlt haben, solch ein offenes Versteck zu wählen. Auf der anderen Seite war es auch überaus klug. Snyder hatte dieses Kino geliebt und wohl jeden einen Kopf kürzer gemacht, der es unbefugt betreten hätte.
»Jetzt nicht mehr, alter Knabe.«
Während die Gäste bei der Führung waren, war er unbemerkt ins Kino geschlichen. Dort nahm er zwei Filmdosen – die richtige und eine willkürliche – und verließ den Raum, bevor er doch noch entdeckt werden konnte. Auf der Toilette im Erdgeschoss tauschte er die Filme aus, so dass in der richtigen Dose der Falsche lag. Eigentlich wollte er sie wieder zurück ins Kino bringen, doch die fette Mrs. Bertram war bereits mit den Gästen auf dem Weg dorthin. So hatte er ihn einfach in die Vitrine gelegt und war abgehauen.
Er hätte das schon viel früher erledigen sollen, statt jahrelang damit zu leben, von Snyder erpresst zu werden. »Das hat nun ein Ende.« Genauso wie Snyder selbst.
Es hatte ihn zwar eine große Stange Geld gekostet, den Pfleger zu bestechen, damit er einen Selbstmord durch Strangulation meldet, aber das Geld war es wert gewesen. Wenn ein alter, kranker, depressiver Mann beschloss, sich selbst das Leben zu nehmen, würde kein Hahn mehr nach der wahren Todesursache krähen.
Die Leinwand vor ihm flackerte auf, es ratterte, als das Band anlief und kurz darauf sah er die Bilder. Es war wie in der Mordnacht, doch diesmal hatte er eine andere Perspektive. Statt alles aus seiner eigenen Sicht zu erleben, schwebte er jetzt förmlich über dem Geschehen. Wie ein Geist. Er lehnte sich zurück und sah sich dabei zu, wie er Marietta King ein zweites Mal tötete …
Als alles vorüber war, schaltete er den Film ab. Wenn Snyder dieses Band der Polizei zugespielt hätte, wäre er erledigt gewesen. Snyder hätte den Mord von Marietta King mit nur einem Anruf aufklären können. Stattdessen hatte er sich entschieden, das Geld zu nehmen und sich ein schönes Leben zu machen. Vielleicht war der Krebs die Buße für sein Schweigen gewesen, wer wusste das schon.
Er nahm den Film aus dem Projektor und warf ihn in das Feuer im Kamin, das er zuvor angezündet hatte. Das Band schmolz vor seinen Augen zu einem Klumpen zusammen. Jetzt waren alle Beweise vernichtet. Alle Spuren beseitigt. Er lachte leise und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Alles lief genau nach Plan.
*
»Eine Familienfeier?«, fragte Olivia und starrte wie die anderen fassungslos auf die Leinwand. Auf dem Band, das Mason und Danielle mitgenommen hatten, war tatsächlich eine Grillparty aufgenommen worden. Zu sehen waren ein junger Henry Snyder, der mit seiner Tochter in einem Planschbecken im Garten spielte, und eine ebenso junge Agnes Snyder, die am Tisch saß, Platzdeckchen häkelte und den beiden voller Wonne zusah. Die perfekte Familie an einem perfekten Tag, in einem perfekten Garten. »Ich glaube es nicht«, sagte sie noch einmal.
»Wir haben das alles für nichts und wieder nichts gemacht«, sagte Mason und schüttelte den Kopf. In den letzten Minuten war es totenstill unter ihnen geworden. Niemand konnte glauben, was sie da sahen. Der Film, in den sie so große Hoffnungen gesteckt hatten, der angeblich den Mörder von Marietta King zeigen sollte, war eine Sackgasse.
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