Die katholische Kirche wird im nächsten Pontifikat ein noch unerforschtes Gelände betreten. Deshalb ist es wichtig, jetzt über zwei Fragen nachzudenken:
Was will der Heilige Geist eine Kirche im Übergang lehren?
Welche Eigenschaften wird der Mann brauchen, der – als Nachfolger des heiligen Petrus, dem »die Schlüssel des Himmelreichs« gegeben sind (Mt 16,19) – die Ehrfurcht gebietende Verantwortung und große Last des päpstlichen Dienstamtes trägt, um die Kirche durch diesen Übergang hindurchzuführen?
Der Heilige Geist und die gegenwärtige Situation des Katholizismus
Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll, den Geist der Wahrheit […]. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird .
Joh 14,16–17
In den letzten eineinhalb Jahrhunderten hat der Heilige Geist die katholische Kirche einem dritten Jahrtausend entgegengeführt, das von einem erneuerten evangelikalen Zeugnis und einer zunehmenden missionarischen Begeisterung geprägt sein wird.
Diese Reise in die Tiefen des Evangeliums war eine Erfahrung der Gnade und war doch nicht frei von Schwierigkeiten. Die notwendigen Reformen, um sicherzustellen, dass die Kirche des 21. Jahrhunderts den großen Auftrag erfüllen kann – »Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern« (Mt 28,19) –, sind noch nicht abgeschlossen. Innerhalb der Kirche selbst gibt es in Fragen der katholischen Lehre und Identität, der katholischen Praxis und dem Sendungsauftrag tiefe Gräben. Über vielen Ortskirchen liegt der dunkle Schatten des Skandals. Es sind keine ruhigen Zeiten für uns Katholiken.
Wenn wir jedoch auf die Weltkirche schauen und sehen, wo der Katholizismus lebendig und vital ist und wo demgegenüber die Kirche dahinsiecht und im Sterben liegt, dann rückt der Weg in den Blickpunkt, den der verheißene Tröster, der Heilige Geist, für die Kirche im dritten Jahrtausend festgelegt hat.
Die Kirche, die das Evangelium angenommen, die Männern und Frauen das große Geschenk der Freundschaft mit unserem Herrn Jesus Christus gemacht, diese Freunde des Herrn in die Gemeinschaft seiner Jünger aufgenommen und diese Jünger kraft der Sakramente dazu ermächtigt hat, das ihnen gemachte Geschenk an andere weiterzugeben – dieser Katholizismus ist lebendig, auch wenn die kulturellen und politischen Umstände so manche Herausforderung mit sich bringen. Und dieser Katholizismus leistet wichtige Beiträge für die Gesellschaft, Kultur und für das öffentlichen Leben.
Die Kirche jedoch, die ihr Vertrauen in das Evangelium verloren hat, die das Evangelium nicht länger als rettende Wahrheit und göttliche Gnade für jedermann verkündet, die Kirche, die sich selbst anscheinend als eine Nichtregierungsorganisation betrachtet, die von der Gesellschaft gebilligte gute Werke tut – dieser Katholizismus liegt im Sterben, und zwar auch dort, wo er finanzstark und gut organisiert zu sein scheint. Und dieser Katholizismus steht eher am Rand der Gesellschaft, der Kultur und des öffentlichen Lebens.
Für diejenigen, die Augen haben, die Werke der Gnade zu erkennen, die Ohren haben zu hören, was der Geist der Kirche sagt, und die den Mut haben, auf der Grundlage des Gesehenen und Gehörten zu handeln, ist der weitere Weg mithin klar – ungeachtet aller Herausforderungen.
Dieser vom Geist geführte Weg zu einem Katholizismus, in dem die zahlreichen Einrichtungen der Kirche Startrampen für die Mission werden, hat vor beinahe eineinhalb Jahrhunderten begonnen.
Papst Leo XIII. fasste bei seiner Wahl 1878 einen Entschluss von evangelikaler Kühnheit: Der Katholizismus sollte die defensiven Festungen verlassen, die er im Lauf des 19. Jahrhunderts errichtet hatte, und sich mit der modernen Welt auseinandersetzen, um sie zu bekehren. Auf diese Weise, glaubte Leo XIII., könnte die Kirche dazu beitragen, eine solidere Grundlage für das Bestreben der modernen Gesellschaft nach Frieden, Wohlstand und Solidarität zu schaffen. Um diese Vision eines engagierten Katholizismus zu verwirklichen, belebte Papst Leo das katholische intellektuelle Leben neu, drängte auf einen neuen Dialog zwischen der Kirche und der modernen Wissenschaft, erleichterte das Studium der eigenen Kirchengeschichte, ermutigte zu einer intensiveren Begegnung des Katholizismus mit der Bibel und begründete die moderne katholische Soziallehre. Während Leos Pontifikat und in der Zeit danach rief diese »leoninische Revolution« vor allem in Europa beträchtliche innerkirchliche Turbulenzen hervor. Die Frage, wie der Katholizismus die Aufgabe der Bekehrung der Welt angehen sollte, wurde heftig und zuweilen erbittert diskutiert. Deshalb und aufgrund der traumatischen Erfahrungen aus der Geschichte (einschließlich zweier Weltkriege) war der Weg zu einer evangelikal ausgerichteten katholischen Erneuerung nie leicht und ihn zu beschreiten, erforderte immer Opfer.
Achtzig Jahre nachdem Leo Bischof von Rom geworden war, wurde Angelo Giuseppe Roncalli zum Papst gewählt. Er nahm den Namen Johannes XXIII. an. Roncalli hatte die Unruhe, die die »leoninische Revolution« verursacht hatte, in seinem eigenen Leben und Dienst zu spüren bekommen. Seine Erfahrungen als diplomatischer Vertreter des Papstes im vom Krieg zerrissenen Südosteuropa, als päpstlicher Nuntius in einem ausgelaugten und uneinigen Nachkriegsfrankreich und als Kardinal und Patriarch von Venedig hatten ihn, der die Geschichte aus der Nähe erfahren hatte, gelehrt, dass die Kirche mehr tun musste, als sich gegen politische und kulturelle Aggressoren zu verteidigen, wenn sie einen erneuerten und wiederbelebten Auftrag in Angriff nehmen wollte – genauso wie es einer seiner Helden, der heilige Karl Borromäus, im 16. Jahrhundert getan hatte, als er auf dem Bischofsstuhl des heiligen Ambrosius in Mailand saß. Denn am Ende des zweiten und an der Schwelle zum dritten Jahrtausends befand sich die katholische Kirche nicht länger in einer Zeit des Christentums, in der sie bei der Weitergabe des Glaubens mit der Hilfe der öffentlichen Umgebungskultur rechnen konnte. Sie befand sich wieder einmal in einer apostolischen Zeit – deren Rahmen durch den großen Auftrag zur Mission und durch ein lebhaftes Bewusstsein der Verpflichtung gekennzeichnet war, das Evangelium, »ob gelegen oder ungelegen«, zu verkündigen (2 Tim 4,2).
Johannes XXIII. hatte dies erkannt. Und weil er diese Erkenntnis des evangelikalen Gebots und der evangelikalen Möglichkeit mit der ganzen katholischen Kirche teilen wollte, berief er das Zweite Vatikanische Konzil ein. Das II. Vatikanum sollte die Kräfte sammeln, die die »leoninische Revolution« freigesetzt hatte, und sie im Prisma eines ökumenischen Konzils klar betrachten. Dieses Konzil, so hoffte er, würde eine neue Pfingsterfahrung sein. Und wie das erste christliche Pfingstfest, das im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben wird, sollte auch diese Erfahrung des Heiligen Geistes den Glauben der Kirche an die Wahrheit des Evangeliums vertiefen und in ihr einen neuen Eifer für die Evangelisierung entzünden.
Was Johannes XXIII. mit dem II. Vatikanum beabsichtigt hatte, wird in seiner Eröffnungsansprache an die Konzilsteilnehmer vom 11. Oktober 1962 deutlich, die nach den ersten drei Wörtern des lateinischen Texts unter dem Titel Gaudet Mater Ecclesia (»Es jubelt die Mutter Kirche«) bekannt ist. Heute erinnert man sich, wenn überhaupt, nur an einen Satz aus dieser Ansprache: den Satz, in dem der Papst jene »Unheilsverkünder« rügte, in deren Augen die modernen Zeiten nichts als Untergang und Unheil mit sich brachten. 1Doch Gaudet Mater Ecclesia war weit mehr als eine Warnung vor historischem Pessimismus. Immer wieder kam Johannes XXIII. in seiner umfänglichen Ansprache auf einen zentralen Punkt zurück: dass die Kirche ihr Selbstverständnis wieder an Jesus Christus ausrichten müsse, von dem (so seine Worte) die Kirche »Namen, Gnade und jegliche Vollmacht erhält«. 2Die Ära dessen, was man vielleicht als Ekklesiozentrismus beschreiben könnte – einer Kirche, die in der Moderne oft darauf fokussiert gewesen ist, als Institution zu überleben und zu funktionieren –, neigte sich dem Ende zu. Ein neues christozentrisches Zeitalter – mit einer Kirche, die sich wieder darauf konzentriert, das Evangelium Jesu Christi als Antwort auf die Frage zu verkündigen, die sich in jedem Menschenleben stellt – sollte beginnen. Das war die Richtung, in die der Heilige Geist die Kirche fast ein Jahrhundert lang geführt hatte. Das war der Weg in die Zukunft, den der Katholizismus beschreiten musste, indem er die Institutionen, die in den Jahrhunderten, als die Kirche sich gegen feindliche Mächte verteidigt hatte, errichtet und aufrechterhalten worden waren, als Plattformen nutzte, um von dort aus die Welt zu bekehren.
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