»Da musst du dir keine Sorgen machen, Bill. Wirklich nicht!« Otto hoffte, seine feste Stimme, die ein wenig wütend klang, würde Leamy überzeugen, was ihn anging. Es war offensichtlich, dass Leamys geschwätziger Golfpartner, Dr. Raynack, ihm schon einen Floh ins Ohr gesetzt hatte.
Otto versuchte, nicht mehr darüber nachzudenken, dass sich Leamy und Quantico seinetwegen Sorgen machten. Er konzentrierte sich stattdessen auf Jessica Coran, deren orchestrierte Sammlung von Beweisen für die lokalen Gesetzeshüter wie Science Fiction wirken musste. Ihre Instrumente und ihr Vorgehen entsprachen dem neuesten Stand der Wissenschaft, und sie hatte das Ruder in die Hand genommen, genau wie erwartet. Sie hatte die bulligen Polizisten bereits auf Händen und Knien, damit sie das Linoleum unter dem Waschbecken in der Ecke und die Bodendielen unter dem Kopf des Opfers herausrissen. Auch wenn nirgends eine Spur von Blut zu sehen war, wusste sie, dass zumindest Spuren davon unter einem Elektronenmikroskop immer noch zu sehen sein würden, selbst nachdem sie gründlich weggewaschen und weggeschrubbt worden waren. Wenn der Killer sich auch nur ritzen würde, während er die Leiche zerhackte, dann würde sie Spuren seines Blutes in der Spüle, auf den Fliesen oder den Bodenbrettern finden, glaubte Otto. Er hatte gerüchtehalber gehört, dass sie liebevoll die »Leichenfledderin« genannt wurde. Raynack hingegen war in der Abteilung bekannt als der »Rattenmann«.
Otto sah ihr genau zu. Dr. Coran war seiner Meinung nach ein sehr angenehmer Anblick. Er erinnerte sich daran, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Ihm war die Luft weggeblieben. In dieser Umgebung war sie natürlich ein starker, unübersehbarer Kontrast zu der von Männern dominierten Szenerie, aber selbst in einem Raum voller gut aussehender Frauen würde sie seiner Meinung nach noch herausstechen. Jessica hatte langes, kastanienfarbiges Haar, das eine wilde Mähne bildete, wenn sie es nicht zurückband. Ihr seidiger Teint wirkte vor dem marineblauen Anzug mit der weißen Spitzenbluse makellos, doch jetzt lag die Kostümjacke draußen im Auto auf ihrem Mantel und war von einer Leinenschürze ersetzt worden, die ihren Minirock bedeckte. Das lenkte jedoch nicht von ihrer schlanken Figur ab. Otto sah, wie Stowell und so manch anderer ihr ab und zu einen Blick zuwarfen.
Großartige Gene, machte er sich klar. Mit 17 war sie ein großes und gertenschlankes Mädchen gewesen mit einer erstaunlichen Grazie für ihr Alter. Sie war so groß wie ihr Vater und hatte sein wissendes Glitzern in den Augen, dazu die rauchige Stimme ihrer Mutter und deren hohe Wangenknochen. Sie hatte diese charakteristische Die-Arbeit-geht-vor -Einstellung, die ihren Vater beim Militär so unersetzlich gemacht hatte. Boutine hatte Dr. Oswald Coran als einen der besten medizinischen Ermittler kennengelernt, den er je getroffen hatte, so wie auch jeder andere, der mit dem Mann zu tun gehabt hatte – darunter Familienangehörige vermisster Soldaten, Senatoren, Generäle und Präsidenten. Coran hatte einige kontroverse Autopsien geleitet, seine Expertise war sehr gefragt, wenn es darum ging, Zweifel bei einer Ermittlung auszuräumen – beispielsweise vor zwei Jahren, als zwei Senatoren binnen einer Woche durch Flugzeugabstürze ums Leben kamen.
Oswald Coran war an einer lähmenden Krankheit gestorben, die ihm durch Muskelschwäche die Kontrolle über seine Glieder genommen hatte. Nur sein Geist war unversehrt geblieben, gefangen in einem nutzlosen, verwelkten Körper. Für einen solchen Mann war das wie eine Höllenstrafe gewesen. Es gab Gerüchte, sein plötzlicher Tod sei das Ergebnis von Sterbehilfe gewesen, aber dem wurde nie nachgegangen. Tragischerweise starb Jessicas Mutter bei einem Autounfall, kurz bevor ihr Vater krank wurde. Irgendwie hatte Jessica es überstanden und ihre Assistenzzeit am Bethesda Marinekrankenhaus beendet, an dem ihr Vater Chef der forensischen Abteilung gewesen war.
Laut Jessicas Vater achtete die Navy im Gegensatz zur Army darauf, dass ihre medizinischen Praxiskräfte die nötige Ausbildung bekamen. Er bestand darauf, dass sie entweder bei der Navy oder auf einer medizinischen Privatschule ausgebildet wurde. Sie wählte Letzteres, aber als »Navy-Spross« war ihr Leben von Entwurzelung, Veränderung und ständigen Brüchen geprägt. Trotz ihres sanften Äußeren war sie deswegen sehr tough und hatte keinen Schimmer, wie umwerfend sie aussah. Ihre Vorstellung von Schönheitspflege bestand darin, die Haare zusammenzubinden und ein wenig Parfüm aufzulegen – mehr brauchte sie auch gar nicht zu tun.
Sie hielt sich in dieser Nacht zurück, überließ Boutine die Führung, aber jeder der Anwesenden wusste, dass sie das Sagen hatte, dass sich etwas verändert hatte, als sie sich an die Arbeit machte. Charisma, der X-Faktor, was immer es war, das die Menschen um sie herum beeindruckte – sie hatte jede Menge davon. Otto wusste, er hatte nicht viel mehr als die Fähigkeit, andere einzuschüchtern und zu verängstigen.
Er hatte sie bei der Zeremonie getroffen, als man ihren Vater zum Chef der forensischen Abteilung in Bethesda gemacht hatte. Damals war sie vielleicht 16 oder 17 gewesen. Seitdem war sie noch hübscher geworden.
Unvermittelt stand sie auf und streckte die Beine aus, die sich schon verkrampft hatten, weil sie die ganze Zeit in der Hocke saß. Sie drehte sich um und bemerkte, dass er Löcher in die Luft starrte. Fast höflich fragte sie: »Bist du am Tagträumen, Otto? Ausgerechnet jetzt?«
Er ließ sich nicht anmerken, was in ihm vorging, und schoss zurück. »Abwehrmechanismus.« Ob sie auch nur ahnte, dass sie Gegenstand seiner Gedanken war?
»Hilf mir mal«, sagte sie. »Ich brauche die Pinzette, die ich drüben bei meiner Tasche gelassen habe, und noch ein Reagenzglas, bitte.«
Er steckte seine nicht entzündete Pfeife ein und nickte: »Sicher, sicher … sonst noch was?«
Otto spürte, wie die anderen Männer sie ansahen. Vermutlich waren sie auf ihn neidisch. Nicht weil er schon so lange beim FBI war oder so viel erreicht hatte, sondern weil er sie persönlich und beruflich kannte.
»Die Familie hat ein Recht darauf, dass das zu einem Abschluss gebracht wird«, sagte Dr. Samuel Stadtler in ihr Ohr. Der grauhaarige, verkniffen aussehende örtliche Pathologe trieb sich schon seit Stunden am Rand des Tatorts herum und nervte den Sheriff mit seinem Gerede, weil er von Jessica in keiner Weise darum gebeten worden war, zu helfen.
»Es könnte eine Weile dauern, bevor ich Ihnen die Leiche übergeben kann, Dr. Stadtler«, sagte sie ihm. »Und ich will bei der Autopsie dabei sein, verstehen Sie?«
»Ich verstehe mehr, als Sie glauben«, sagte er geheimnisvoll. »Zum Beispiel weiß ich, dass Mord das Federal Bureau of Investigation normalerweise nicht interessiert. Ich weiß, dass Stowell Sie dazugeholt hat, und ich weiß, wie Sie arbeiten, nämlich ohne einen Gedanken an die Familie zu verschwenden.«
Otto trat dazwischen, als er das hörte und merkte, wie all die andern Polizisten begierig darauf warteten, dass es zum Showdown zwischen dem alten Landarzt und der jungen Ärztin kommen würde. Otto sagte: »Das ist jetzt Sache der Bundespolizei, Dr. Stadtler …«
Aber Jessica schnitt ihm das Wort ab und baute sich direkt vor Dr. Stadtler auf. »Und Sie können entweder kooperieren oder von dem Fall komplett abgezogen werden. Es liegt an Ihnen.«
»Ich habe hier die Zuständigkeit, Doktor«, blaffte Stadtler sie an.
»Nein, nein, haben Sie nicht. Außer, wenn uns die Behörden hier zum Gehen auffordern, erst dann«, konterte sie. »Und jetzt, Sir, schlage ich vor, da Sie sich ja so viel Sorgen um die Familie machen, setzen Sie sich mit ihnen zusammen und helfen ihnen, mit ihrer Trauer fertig zu werden.«
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