Gesundheit ist ein dynamisches Gleichgewicht zwischen körperlichen und seelischen Strukturen und Funktionen im Austausch mit der Umwelt. Das Gesundheitsverhalten dient dazu, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, indem die Betroffenen Störungen ausgleichen oder vorbeugende Maßnahmen ergreifen, auch wenn noch keine Beeinträchtigungen bestehen.
Demgegenüber führt ein Risikoverhalten kurzfristig oder langfristig zur Beeinträchtigung der Gesundheit, vor allem bei den sog. Zivilisationskrankheiten. Risikoverhalten ist z. B. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Alkohol- und Nikotinkonsum, Vernachlässigung von Früherkennungsmaßnahmen u. a. Die Ursachen des Risikoverhaltens liegen weniger in fehlender Aufklärung und geringem präventiven Wissen als in bewussten und unbewussten Motiven, wie z. B. in einer Selbstbestrafung oder latenter Suizidalität oder in der Psychodynamik süchtigen Verhaltens.
1.1.1 Psychosoziale Risikofaktoren
Die psychosomatische Forschung hat mit dem Konzept der psychosozialen Risikofaktoren ein Modell der Entstehung und Auslösung von Krankheiten entwickelt, das in gleicher Weise für somatische, psychosomatische und psychische Störungen Gültigkeit hat (
Übersicht).
Psychosoziale Risikofaktoren
• Stress, chronische Überforderung, z. B. durch Arbeitsunzufriedenheit und Überlastung am Arbeitsplatz oder durch anhaltende familiäre Probleme
• Belastende emotionale Erlebnisse, kritische Lebensereignisse (Life events), z. B. Verlust nahestehender Menschen
• Chronische Krankheit und Behinderung, Pflegefälle in der Familie
• Ungünstige sozioökonomische Bedingungen, finanzielle Sorgen
• Starke soziale Mobilität, Migration, Flucht und Vertreibung
• Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere eine sog. Risikopersönlichkeit (s. unten)
Als generelles Krankheitsrisiko gilt der Stress. 12Darunter versteht man psychische, psychosoziale und körperliche Belastungen, die das seelische und körperliche Gleichgewicht bedrohen. Sie rufen Stressreaktionen hervor, die von der Intensität und Art des Stressors, von Persönlichkeitsfaktoren und vom persönlichen Umfeld abhängen. Ob damit eine Anpassung gelingt oder ob es zur Manifestation psychischer und somatischer Krankheiten kommt, hängt von der Art und Intensität der Belastungen, von Persönlichkeitsfaktoren und von den Umgebungsfaktoren ab, z. B. vom Ausmaß der sozialen Unterstützung. 13
Die Verknüpfung zwischen äußerer Stressbelastung, innerer Disposition und Krankheitsmanifestationen wird durch konstitutionell angelegte Stressbewältigungsprogramme geregelt. Diese werden durch die Erfahrungen in den frühen Entwicklungsjahren ausgeformt. Dabei scheinen insbesondere traumatische und Trennungserfahrungen Beeinträchtigungen zu bewirken. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Stressbewältigung und Bindungserfahrungen.
Solche Programme wurden beispielhaft in der Psychoimmunologie 14untersucht. Dabei wurde entdeckt, dass über hormonelle und neuronale Übertragungswege eine enge Verknüpfung zwischen affektiven Zuständen und dem Immunsystem besteht. Sie ist die Basis dafür, dass psychisch belastende Zustände das Immunsystem schwächen können. Dadurch können die Betroffenen für Krankheiten anfällig werden – vom banalen grippalen Infekt bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen. Diese Erkenntnisse erklären das häufige Zusammentreffen von Krankheit und Belastung, z. B. bei Verlusterlebnissen (Tod und Trauer) und nach Trennungen. Ähnliche Zusammenhänge werden auch für Krebserkrankungen diskutiert, sind dort aber umstritten.
Die Neurobiologie beschreibt die somatischen Korrelate solcher Reaktionen auf der humoralen und morphologischen Ebene. Dabei hat der Hippocampus als zentrale Schaltstelle des limbischen Systems eine herausragende Bedeutung. Über die Ausschüttung von Stresshormonen (Interleukin, Kortisol) kommt es zunächst zu funktionellen Veränderungen im Gehirn und bei anhaltendem Stress zu dauerhaften, wahrscheinlich organischen Veränderungen. Sie können auch andere Organe z. B. das Herz-Kreislauf-System betreffen und spielen bei der Entstehung von Psychosomatosen eine Rolle (
Kap. 12.2.2).
Risikoverhalten und Krankheit am Beispiel der koronaren Herzerkrankung (KHK)
• Krankheitserscheinungen
Die Angina pectoris ist das Leitsymptom der koronaren Herzerkrankung. Sie ist in der Regel gekennzeichnet durch reversiblen, belastungsabhängigen, retrosternalen Schmerz. Er wird – im Gegensatz zum Schmerz bei Herzneurosen (
Kap. 10.3.3) – häufig gering bewertet oder dissimuliert. Typische Komplikationen sind myokardiale Insuffizienz, rhythmogener (Sekunden-)Herztod und Herzinfarkt.
• Epidemiologie
Die KHK betrifft ca. ein Prozent der Bevölkerung. Über die Hälfte der Männer über 45 Jahre haben eine Koronarsklerose.
• Psychosomatische Faktoren
Die Koronardurchblutung wird durch emotionale Belastungen und Risikoverhalten beeinträchtigt. Das Verhalten entspricht dem sog. Typ A. Psychodynamisch lässt es sich als eine Abwehr von Abhängigkeits- und Hingabewünschen und als Schutz vor narzisstischer Kränkung verstehen. Daneben bestehen weitere psychisch (mit)bedingte Risikofaktoren: Rauchen, Hypertonie, Übergewicht, hektische Lebensweise und deren Folgen. Infarktauslösend sind oft psychosoziale Situationen, die als Niederlagen, Verluste (z. B. Todesfälle) und narzisstische Kränkungen erlebt werden.
• Therapeutische Beziehung
Sie ist im chronischen Krankheitsstadium durch leichte Kränkbarkeit, Angst vor Abhängigkeit und Dissimulation gekennzeichnet. Beim akuten Infarktpatienten richten die Patienten Wünsche nach Geborgenheit, Stützung und Trost auf den Arzt bzw. klinischen Psychologen. Allerdings sind sie oft hinter einer Abwehr der Verleugnung verborgen und schwer zu erkennen.
• Psychotherapie
Therapeutisch stehen bei chronisch Koronarkranken die Aufklärung, Förderung der Compliance, Entspannungsmaßnahmen und verhaltensmedizinische Beeinflussung des Lebensstiles im Vordergrund. Beim akut Kranken müssen die fast immer vorhandene reaktive Depression und Angst durch stützende Gespräche aufgefangen und ggf. konfliktzentriert aufgearbeitet werden. In der Rehabilitation können psychotherapeutisch geführte »Koronar«-Gruppen dazu beitragen, dass hypochondrische Ängste abgebaut werden und die Verleugnung von Ängsten und Depressionen gemildert wird.
Als Risikopersönlichkeiten werden Muster von Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen beschrieben, die auf lebensgeschichtliche Zusammenhänge, insbesondere auf früh verinnerlichte Beziehungserfahrungen zurückgehen und zu bestimmten Formen von Erkrankungen disponieren. So ist z. B. als Risikopersönlichkeit für die Entwicklung eines chronischen somatoformen Schmerzsyndroms eine sog. Schmerzpersönlichkeit (»Pain-prone-personality«) bekannt. Auch bei der Erforschung der koronaren Herzerkrankung (
Übersicht) wurde eine Risikopersönlichkeit gefunden: der »Persönlichkeitstyp A« bzw. das Typ-A-Verhalten 15. Dieses ist charakterisiert durch besonders starken Ehrgeiz, Dominanzstreben, Arbeitseifer, beständigen Zeitdruck und die Unfähigkeit, sich zu entspannen.
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