Für behandelnde Ärzte und klinische Psychologen besteht bei der Betreuung von Patienten mit chronischen Krankheiten eine besondere Aufgabe darin, einzuschätzen, ob es für die Betroffenen besser ist, sich vertiefend mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen und z. B. über den Sinn ihrer Krankheit nachzudenken, oder ob es nicht hilfreicher für sie ist, sich abzulenken und ablenken zu lassen und an positive Aspekte ihres verbleibenden Lebens und ihrer Vergangenheit zu denken.
1.2.2 Krankheitsbezogene Bewältigungsaufgaben
Mit den Errungenschaften der modernen Medizin ergeben sich auch neue Herausforderungen, die das Bewältigungsvermögen der Patienten auf die Probe stellen. Lange Krankheitsprozesse, anhaltende Behinderungen, einschränkende Dauerbehandlungen oder eingreifende Operationen können die Kräfte auf längere Sicht erschöpfen und somatopsychische Störungen (
Kap. 6.3) hervorrufen. Um Patienten bei der Verarbeitung und Bewältigung ihrer Krankheiten zu unterstützen, sind in den letzten Jahrzehnten verschiedene somatopsychische Arbeitsfelder entwickelt worden (
Übersicht). Hier können nur einige der Aufgaben angedeutet werden, die sich daraus für die Psychotherapie und Psychosomatik ergeben (
Kap. 20.1).
Somatopsychische Arbeitsfelder
Patienten, die im Rahmen der Intensivmedizin behandelt werden, stehen vor einer Vielzahl von Belastungen. Der Grund zur Intensivbehandlung ist im Allgemeinen eine bedrohliche Erkrankung, die Angst und Schrecken verursacht. Manchmal sind die psychischen Funktionen, die eine Orientierung und Bewältigung erleichtern könnten, durch Narkosefolgen, Traumafolgen oder komatöse Zustände geschwächt. Oft war die Behandlung ganz unerwartet und plötzlich notwendig geworden. Die ungewohnte Umgebung mit unbekannten Apparaten, fremden Menschen und verwirrenden Vorgängen führt zur Verunsicherung. Diesen Belastungen kann man nur schwer entgegenwirken. Wichtige Hilfen sind Kontaktangebot, Zuwendung und Information. Hilfreich sind insbesondere auch möglichst enge Kontakte zu Angehörigen und Freunden, die der Einsamkeit und Not der Patienten, allein schon durch Anwesenheit und Vertrautheit, begegnen können.
Bei Patienten, die wegen schwerwiegender Nierenerkrankungen auf eine Dialyse angewiesen sind, führt die langfristige Abhängigkeit von der »Maschine« zu umfangreichen psychischen Problemen. Der Verlust oder zumindest die Einschränkung der Nierenfunktionen ruft Sorge, Depression und Trauer hervor. Das Angewiesensein provoziert aggressive Einstellungen gegen die »Maschine« und das Betreuungspersonal. Die Folgen der Beeinträchtigungen im persönlichen und beruflichen Bereich, wie Resignation, körperliche und sexuelle Einschränkungen, Berentung, wirtschaftliche Sorgen, Rückzug aus dem sozialen Aufgabenfeld u. v. a. sind lang dauernde Belastungen. Es entstehen dadurch nicht selten somatopsychische Anpassungsstörungen mit Depressivität, Angst und vegetativen Beschwerden. Als Folge anhaltender Belastungen können sich Gleichgültigkeit und Complianceprobleme bezüglich der Dialysebehandlung entwickeln. Die psychotherapeutischen Aufgaben sind langfristig und mühevoll. Wichtig ist die Stabilität und Kontinuität der Betreuung. Problemklärungen, Stützung und Aktivierung des Patienten sind die wichtigsten inhaltlichen Aspekte.
Der Eingriff in die körperliche Intaktheit und Integrität stellt eine tiefe Verunsicherung und eine nachhaltige Störung des Sicherheitsgefühls dar. Operationen provozieren daher in der präoperativen Phase tiefe Ängste. Sie werden teilweise verleugnet und durch Übergefügigkeit verdeckt, teilweise aber auch als Angst und Verzweiflung offen gezeigt oder sogar als Aggressivität gegen Ärzte, Pflegepersonal oder Angehörige gerichtet. Eine angemessene verständnisvolle Zuwendung und eine sachgerechte Information über das geplante Vorgehen und die erwarteten Folgen, Beruhigung und Anregungen zur Entspannung können dieser präoperativen Reaktion vorbeugen oder sie mäßigen. Neurotische Entwicklungen und Konflikte können sie aber auch verstärken. In solchen Fällen können gezielte psychotherapeutische Explorationen und Interventionen hilfreich sein, in denen subjektiv belastende Bedeutungen eines Eingriffs (Vorerfahrungen, Vorbilder, Schuldkonflikte und Selbstbestrafungstendenzen usw.) aufgedeckt und besprochen werden.
Postoperativ entsteht für die Patienten die Aufgabe, sich an die Situation als Operierte anzupassen. Die Operationsfolgen, z. B. Verlust von Organen oder Funktionen und die damit verbundenen Einschränkungen, müssen wahrgenommen, realistisch eingeschätzt und betrauert werden. Dieser Prozess braucht Zeit. Viele Menschen brauchen eine längere Phase der Verleugnung, um sich der neuen Situation überhaupt zuwenden und sie ertragen zu können.
Unterstützung bei der Bewältigung
Das Bewältigungsverhalten stellt im Allgemeinen den subjektiv bestmöglichen Umgang eines Kranken mit seiner Krankheit dar. Es ist eine kreative Leistung, die akzeptiert und respektiert werden sollte, auch wenn sie nicht unbedingt den persönlichen Vorstellungen des Behandlers entspricht. Unter bestimmten Voraussetzungen sind aber psychotherapeutische Interventionen erforderlich, um Bewältigungsversuche zu verbessern: Wenn das Bewältigungsverhalten selbstschädigend erscheint und z. B. notwendige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen vermieden werden oder wenn es mit starken somatopsychischen Anpassungsstörungen verbunden ist.
Oft steht ein Arzt oder Psychologe, der psychisch belastete körperlich Kranke begleitet, vor der Frage, welche Patienten »Problempatienten« und welche »einfache« Patienten sind: Ein ruhiger, willfähriger Patient mag zwar »bequem« im Umgang sein, kann aber aufgrund seiner depressiven Verarbeitung zu einer resignativen Hinnahme seiner Krankheit gelangen, die ihm eine aktive Bewältigung erschwert. Dagegen kann ein Patient, der gegen seine Krankheit ankämpft, als sehr »schwierig« erscheinen, wenn er den Arzt oder Psychologen als einen Repräsentanten seiner Ängste und Verluste erlebt und einen Teil seiner Auseinandersetzung mit der Krankheit auch gegen diese richtet.
1.3 Die therapeutische Beziehung
Während die psychologische Betreuung von Klinikpatienten früher eine integrierte Aufgabe der Arztrolle war, ist sie in den letzten 30 Jahren mehr und mehr in die Hände klinischer Psychologen übergegangen. Das Konzept der therapeutischen Beziehung beschreibt, wie Patienten und ihr Arzt oder betreuender klinischer Psychologe miteinander in Beziehung stehen und welche Prozesse dabei eine Rolle spielen.
Die Beziehung zwischen einem Kranken und seinem Behandler wird von beiden Beteiligten gemeinsam gestaltet. Dabei kommen bewusste und unbewusste, individuelle und soziale Vorerfahrungen, Stile und Rollenvorgaben zum Tragen. Medizinsoziologisch betrachtet besteht die Beziehung aus einem Zusammenspiel zwischen der Krankenrolle und der Rolle des Arztes 23bzw. Psychologen. Diese Rollen sind zueinander komplementär.
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