• Die psychoanalytischen Verfahren basieren auf der Krankheitslehre der Psychoanalyse. Sie zentrieren beim Zugang zum Kranken bzw. zur Krankheit sowohl auf die bewussten als auch die unbewussten innerseelischen Vorgänge (Psychodynamik) und werden deshalb auch psychodynamisch genannt. Sie berücksichtigen auch störungsrelevante psychosoziale Krankheitsfaktoren.
• Die verhaltenstherapeutischen Verfahren beruhen auf der Lernpsychologie und werden auch als Verhaltensmedizin (Behaviour Therapy) bezeichnet. Sie betrachten psychogene Krankheiten vor allem als gelerntes Fehlverhalten und beschäftigen sich daneben besonders mit der Krankheitsbewältigung. Heute gibt es ein breites Spektrum von verhaltenstherapeutischen Verfahren.
Neurobiologische Grundlagen
Durch das Zusammenwirken von neuroanatomischen und psychophysiologischen Forschungen gibt es heute eine rational begründete Vorstellung von der Entstehung und Veränderung psychischer Strukturen. 11Danach finden Erfahrungen in funktionalen Zuständen des Gehirns ihren Niederschlag. Diese beruhen auf elektrophysiologischen Potenzialen an den Verknüpfungspunkten (Synapsen) zwischen den Nervenzellen mit Hilfe biochemischer Neurotransmitter (Brückenstoffe). Diese neuronalen Verknüpfungen bilden funktionelle Systeme, die als neuronale Netze bezeichnet werden. Man kann sie nach heutigem Erkenntnisstand als somatische Korrelate von definierten Erregungszuständen betrachten. Dysfunktionale neuronale Netzwerke können durch Psychotherapie verändert werden.
Über dieses allgemeine Verständnis hinaus hat die Hirnforschung inzwischen außerordentlich differenzierte Erkenntnisse über die Lokalisation von emotionalen und affektiven, kognitiven und vegetativen Funktionen erbracht. Danach ist insbesondere das limbische System im Zwischenhirn als Schaltareal zwischen psychischen, kognitiven und körperlich-vegetativen Prozessen identifiziert worden. Für das Verständnis der Affektregulation, der Verarbeitung überwältigender affektiver Erregungen, z. B. bei Traumatisierungen, und für die Entstehung psychosomatischer Symptome kommt der Interaktion von hormonellen, zentralnervösen und autonomen Regulationen in diesen Arealen eine Schlüsselposition zu.
Averbale Formen der Kommunikation haben durch neurophysiologische Resonanzphänomene eine Erklärung gefunden. Diese beruhen auf der Aktivität von Spiegelneuronen, die bewirken, dass im Gehirn von Menschen, die mit einander in Beziehung sind, gleiche neuronale Prozesse ablaufen. Diese Prozesse bilden die neuronale Grundlage für Nachahmen, Lernen und Intuition und bilden die Basis für die Entwicklung der Persönlichkeit.
Als Mittler zwischen seelischen und körperlichen Prozessen spielt das Immunsystem eine bedeutende Rolle. Insbesondere Trennungen und Verluste verändern über spezifische Botenstoffe (z. B. Interleukin und Interferon) die Regulationsfähigkeit des Immunsystems und fördern z. B. die Anfälligkeit für Infektions- und möglicherweise auch für Tumorerkrankungen. Außerdem sind spezielle Hormone bekannt, die erlebnisreaktiv Einfluss auf das Affekterleben haben, z. B. Hypophysen-/Nebennierenrinden-Hormone mit speziellem Einfluss auf das depressive und Angsterleben.
2.4 Traditionelle und neuere Aufgaben
Den Anfang nahm die Psychotherapie, wie schon erwähnt, mit der Hypnosebehandlung von Konversionsstörungen. Das sind körperlich in Erscheinung tretende Konfliktstörungen, die wir heute zu den somatoformen Störungen zählen. Rasch kam die Behandlung von psychischen Konfliktstörungen hinzu, insbesondere von hysterischen und Zwangsneurosen. Sie bildete das Forschungsfeld, in dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse entwickelt wurde.
Mit dem Aufkommen des psychotherapeutischen Interesses in der Inneren Medizin gewannen Somatisierungsstörungen (
Kap. 10) und die Gruppe der klassischen Psychosomatosen (
Kap. 12) zunehmend an Bedeutung. Zugleich entstand im Arbeitsfeld psychotherapeutisch engagierter Psychiater ein starkes Interesse an der Psychotherapie von Psychosen. Da sie die anfänglichen Erwartungen nicht erfüllte, verlor sie – vor allem nach der Entdeckung der Neuroleptika – später wieder an Bedeutung.
Um 1950 wandelten sich das Spektrum der Behandlung und der Verfahren in der Psychotherapie. Neben die Psychoanalyse, die bis dahin die beherrschende Behandlungsform bei neurotischen Konfliktstörungen war, trat die Verhaltenstherapie. Innerhalb der Psychoanalyse entwickelte sich die Ichpsychologie. Sie erweiterte das Verständnis für die »schwereren« Pathologien, für die das traditionelle psychoanalytische Konzept der Triebpsychologie nicht mehr angemessen erschien. Zunehmend kamen nun »Grenzfälle« in psychotherapeutische Behandlungen, d. h. Patienten mit Strukturstörungen. Seit etwa 1975 bilden Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, narzisstischen Störungen und Borderline-Störungen eine immer stärkere Patientengruppe. Heute stellen sie rund die Hälfte der Behandlungsfälle dar.
Als jüngeres Arbeitsfeld entstand die Arbeit mit primär körperlich Kranken mit Problemen bei der Krankheitsbewältigung und psychischen Folgen ihrer Erkrankungen und deren medizinischer Behandlung. Dieser Bereich bildet als somatopsychische Medizin die zweite Säule der Psychosomatik. Weitere aktuelle Aufgaben sind das Krankheits- und Gesundheitsverhalten, Prävention und Rehabilitation und – seit inzwischen längerer Zeit – die Behandlung von Patienten mit posttraumatischen Störungen, die lange in der Psychotherapie wenig Beachtung gefunden hatten (
Kap. 7).
5 V. Weizsäcker (1940)
6 Engel (1962)
7 V. Uexküll u. Wesiack (1996)
8 Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) v. 22. Juli 1946
9 Strotzka (1975)
10 Zugleich wurde der Psychotherapie innerhalb der Psychiatrie durch die gegenwärtige Weiterbildung und die erweiterte Gebietsbezeichnung »Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie« Rechnung getragen.
11 Eine umfassende Übersicht findet sich bei Schiepek (2003/2016), Haken u. Schiepek (2006) sowie Brunner (2017)
Krankheit und Krankheitsentstehung
1 Psychosoziale Aspekte des Krankseins
1.1 Krankheitsrisiko
1.1.1 Psychosoziale Risikofaktoren
1.1.2 Komorbidität
1.2 Krankheitsbewältigung – Das Coping-Konzept
1.2.1 Bewältigungsprozess und Bewältigungsformen
1.2.2 Krankheitsbezogene Bewältigungsaufgaben
1.3 Die therapeutische Beziehung
Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gesundheit als einen Zustand des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens, während sie Krankheit als Abwesenheit der so verstandenen Gesundheit definiert.
Was als krank und was als gesund betrachtet wird, unterliegt gesellschaftlichen Wertungen und einem historischen Wandel und hängt davon ab, welche Toleranz eine Gesellschaft für Abweichungen von der Norm hat. Je mehr ein Befinden, ein Erleben oder Verhalten als krank definiert wird, desto mehr wird es ausgegrenzt und zur Aufgabe der Medizin. Dabei bilden Krankheit und Gesundheit keine Pole, die sich ausschließen. Es gibt zwischen beiden Zuständen vielmehr Abstufungen und Übergänge. Ob jemand sich krank fühlt, ob und in welchem Ausmaß er darunter leidet und ob er sich in Behandlung begibt, hängt von einer Vielzahl persönlicher Eigenschaften und Einstellungen und von der Haltung und Reaktion der Umgebung ab. Bedeutende individuelle Faktoren sind dabei Empfindsamkeit und Klagsamkeit, Vulnerabilität und Stressresistenz.
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