Typisch für die Vorbereitung der Revolution und des Terrors war das Schicksal eines intellektuellen, leicht linksdralligen Edelmannes, des Chrétien de Lamoignon de Malesherbes, einer Leuchte der Aufklärung. Im Jahre 1750, im Alter von 29 Jahren, wurde er Präsident der Cour des Aides des Pariser Parlement , während sein Vater zum Kanzler ernannt wurde, aber fast alle Arbeit seinem Sohn hinterließ. Der junge Malesherbes benützte seine Stellung, um der Aufklärung zu helfen. Er war „tolerant“ und „fortschrittlich“. Da sein Amt auch das des Zensors war, konnte er der „Aufklärung“ helfen und ihre Kritiker bremsen.
Baron Grimm sagte sehr richtig, daß ohne Malesherbes die Encyclopédie nie hätte erscheinen können. 48)Pierre Gaxotte nennt ihn den vollendeten Typ des Liberalen, der immer von der Angst geplagt wird, als reaktionär zu gelten. Élie Fréron, der Feind Voltaires, d’Alemberts und Marmontels, veröffentlichte eine relativ konservative Zeitschrift, L’Année Littéraire , die immer wieder von Malesherbes konfisziert wurde, und 1758 hätte man Fréron fast eingesperrt, weil er ein Buch gegen die Encyclopédie sehr positiv besprochen hatte. Immer wieder angegriffen, versuchte Malesherbes alles zu tun, um Frérons Verteidigung zu erschweren. 1752 verbot Malesherbes die Veröffentlichung eines Buches des Jesuitenpaters Louis Geoffroy, weil darin Diderot angeschwärzt wurde. Pater Thomolas von Lyon, der den Artikel „College“ darin kritisierte, wurde verwarnt: Er wäre frech! Pater Charles Polissot de Montenoy wurde von Malherbes verfolgt und so auch der hochbegabte Nicholas Gilbert, der jung starb. „Die Philosophen beklagten sich, daß sie verfolgt wurden“, bemerkt Gaxotte, „sie aber waren es, die als Verfolger auftraten.“ 49)
Malesherbes sah schließlich den Schaden, den auch er angerichtet hatte! Während des Terrors war er in die Schweiz geflohen, kehrte aber nach Paris zurück, um seinen König vor dem Tribunal zu verteidigen. Er hatte schließlich die traurige Aufgabe, ihm mitteilen zu müssen, daß er zum Tode verurteilt worden war. 50)Er zog sich aufs Land zurück, wurde aber im Dezember 1793 zusammen mit seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und seinen Enkelkindern verhaftet. Alle wurden zu Tode verurteilt, er aber absichtlich als letzter hingerichtet, um das Schicksal seiner Familie mitansehen zu müssen. Die délicatesse der demokratischen Linken kennt eben keine Grenzen! Für alle seine Sünden hatte dieser Mann schwer gebüßt. Die Straße, die zum linken Radikalismus führt, ist nicht nur breit, sondern auch steil nach unten abfallend. Unter diesen Umständen versagen dann die Bremsen nur allzuleicht.
Doch die Bedeutung der Französischen Revolution liegt nicht nur darin, daß sie die Demokratie erneuerte, die schon in der Antike moralisch Schiffbruch erlitten hatte, sondern auch ganz neue Nahrung zur Staatsvergötterung, zum Totalitarismus und zum „völkischen“ Nationalismus gegeben hatte. Die antike Pólis mit ihrer absoluten Herrschaft (diesmal mit totalitärem Vorzeichen) war wieder da, aber nunmehr in völkisch-nationalem Gewande mit der falschen Maske des Patriotismus. 51)Man hatte nun nicht mehr gleich zu sein, sondern auch identisch, „nämlich“. 52)Der Fall Robespierres im Thermidor vereitelte nicht nur seinen Plan, alle Kirchtürme als „undemokratisch“ niederzureißen, denn sie 53)waren höher als die anderen Gebäude, sondern auch seine andere Absicht, alle Franzosen und Französinnen je in eine eigene Uniform zu stecken. „Uniformität“ wurde nun zum Schlüsselwort. Diese erstreckte sich auch auf die Landesverteidigung.
Einen der revolutionärsten, für den Rest der Welt verhängnisvollsten Schritte tat die Französische Revolution in der Domäne der Kriegsführung. Da alle Citoyens die gleichen Rechte besaßen, hatten sie auch die gleichen Pflichten: Sie durften wählen, also mußten sie auch auf den Schlachtfeldern kämpfen. Wenn aber ein Land (und in diesem Fall war es das volkreichste Europas) die allgemeine Wehrpflicht einführt, dann mußten auch alle Nachbarn 54)diesen Zwang kopieren, und damit trat Europa in eine der fürchterlichsten Phasen seiner Geschichte ein, denn es bekämpften sich von nun an riesige Armeen. Das war die Einleitung zu unseren totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Die Kabinettskriege mit ihren Söldnern waren zuende gegangen, und es setzten nun die ‚Volkskriege‘ ein. Da aber der Durchschnittsbürger keinerlei Begeisterung für den Soldatenberuf besitzt (der eine ganz bestimmte ‚Berufung‘ und Eignung voraussetzt), mußten die Gemüter durch eine ungeheure und ungeheuerliche Propaganda angeheizt werden. Diese aber fand nicht nur in den Kasernen statt, sondern erfaßte und mobilisierte die ganze Nation. Nicht nur die Soldaten, nicht nur die Wehrpflichtigen, sondern auch deren Eltern, Frauen, Schwestern und Kinder wurden zum Haß gegen den Feind aufgerufen. Von nun an kämpfte eben nicht mehr König gegen König, sondern Volk gegen Volk. Hippolyte Taine, dem man wohl keine rechtsradikalen Tendenzen vorwerfen kann, hat dies sehr anschaulich geschildert:
„Die allgemeine Wehrpflicht… hat sich wie eine ansteckende Krankheit ausgebreitet…, sie ist im ganzen europäischen Kontinent verbreitet und herrscht dort mit ihrer Zwillingsschwester, die ihr vorausgeht oder nachfolgt, dem allgemeinen Wahlrecht…, eine die andere mit sich schleifend, beide blinde und furchterregende Herrinnen und Meisterinnen der Zukunft. Die eine gibt in die Hand eines jeden den Stimmzettel, die andere hängt ihm den Tournister des Soldaten auf den Rücken – und mit welchen Aussichten auf Massaker und Bankrotterklärungen im [kommenden] zwanzigsten Jahrhundert, mit welchem verzweifelten, internationalen, schlechten Willen und Mißtrauen, mit welchem Verlust an aufbauenden Bestrebungen, durch was für eine Perversion der produktiven Erfindungen, begleitet von was für einem Fortschritt in den Mitteln der Zerstörung, durch was für einen Rückschritt in die niedrigsten und ungesunden Formen streitsüchtiger Gesellschaften, durch was für einen Rückfall in egoistische und brutale Instinkte hinunter zur Gefühlswelt, den Sitten und der Moral der Staaten der Antike und barbarischen Stämme, das wissen wir nur zu wohl.“ 55)
Hoffman Nickerson kommentierte diese Dekadenz mit den Worten: „Wie bei barbarischen Stämmen wurde nun jeder körperlich geeignete Mann ein Krieger. Innerhalb von vier Jahren nach der ersten Einberufung des revolutionären Parlaments wurde nun Rousseaus unmöglicher Traum von einem Himmel auf Erden nicht verwirklicht: Anstelle einer ländlichen Szenerie belebt mit Hirtinnen, die wie Figuren aus Dresdner Porzellan aussahen, hatten wir wieder die bewaffnete Horde. Die demokratischen Politiker, verzweifelt nach einem militärischen Werkzeug Ausschau haltend, um ihr System und ihre Haut zu retten, ließen den Teufel des totalen, des absoluten Krieges los.“ 56)
Und mit dieser Belastung leben wir auch heute. Wir sind sie derartig gewohnt, daß es unseren Massenmedien ein leichtes ist, gegen Söldner Stimmung zu machen. Der Söldner (von dem wir das Wort Soldat immerhin abgeleitet haben) ist ein Mann, der eine echte Berufung zum Kriegshandwerk hat und überdies die so viel gelobte Freiheit besitzt, sich seinen General oder auch seine „Sache“ selbst auszusuchen. Verglichen mit dem Mann, der sich zitternd hinter dem Ofen verbirgt und von den Gendarmen zur Assentierung gebracht wird, hat er doch ein beneidenswertes Los. Zugleich geben wir zu, daß Tapferkeit nicht in jedermanns Wiege gelegt wird. Die moderne Gesellschaft und der Staat aber versuchen die oft ganz natürlichen Hemmungen ihrer Männer und deren Anhang zu überwinden, die tiefste und häßlichste menschliche Leidenschaft zu mobilisieren – den Haß, in diesem Fall den Kollektivhaß. Dieser ist, wie zum Beispiel im Ersten Weltkrieg, durch die alliierten Greuelgeschichten über die deutschen Soldaten zur Weißglut angeheizt worden, aber auch im Zweiten Weltkrieg, bevor die Schrecken des Nationalsozialismus bekannt wurden, hatte man in den Vereinigten Staaten für die „Moral“ der Soldaten „Dokumentationsfilme“ hergestellt. Sie wurden auch zur Propaganda im Ausland verwendet. 57)
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