Sicherlich war Rousseau ein seltsamer Vogel, ein schwerer masochistischer Neurotiker, der gerne die Rolle eines pädagogischen Fachmanns spielte, aber seine eigenen Kinder in Waisenhäuser abschob. Noch bedeutend exzentrischer war jedoch Aldonse Donatien Marquis de Sade, der nicht nur dem Sadismus seinen Namen gegeben hat, sondern auch ein bedeutender Vertreter des materialistischen Determinismus war. In aller Wahrscheinlichkeit hat er den Sturm auf die Bastille verursacht. Schließlich befehligte er als Jakobiner die Section des Picques 21)– bis er Robespierre verdächtig wurde und im Gefängnis landete. Der „Göttliche Marquis“, muß man wissen, wurde auf Bitten seiner Schwiegermutter von Ludwig XVI. durch ein Lettre de Cachet in der fast verödeten Bastille eingekerkert, wo er ein recht fideles Leben führte. 22)Seine Mithäftlinge waren vier Wechselfälscher, zwei verkommene Standesgenossen des Marquis und ein Irrer, der dort zur Beobachtung eingeliefert worden war. Diese sieben Gefangenen wurden von 80 Invaliden und 40 Schweizern bewacht. Der Gouverneur de Launay verhandelte mit einem wütenden Mob, der diese Zwingburg königlicher Tyrannei erstürmen wollte und schließlich ihm wie auch seiner Besatzung freien Abzug versprach. Als aber der Gouverneur mit der Mannschaft, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, die Festung verließ, wurden sie von der wortbrüchigen Meute überwältigt und mindestens die Hälfte mitsamt dem Gouverneur auf die viehischeste Weise umgebracht. Man versuchte, de Launay den Kopf abzuschneiden, was den fortschrittlichen Verbrechern nicht gelang, worauf ein Fleischergeselle gerufen wurde, qui savait faire les viandes , der sich also auf eine Zubereitung von Fleischwaren verstand. Aber auch dieser war in seinen Operationen nicht sehr geschickt. Selbst das Messer war zu stumpf. Auf jeden Fall aber dient dieses widerliche Massaker seit 1880 als Basis des Nationalfeiertags der zahlreichen französischen Republiken – bis heute fünf, wenn nicht bald sechs.
Die Schuld an diesem ungeheuerlichen Ereignis trägt Sade zu großem Teil, denn er war in der Bastille bis zum 4. Juli – also zehn Tage vor dem Sturm – eingesperrt und versuchte mit der Hilfe eines Trichters, die Menschen in diesem Stadtviertel aufzuputschen. Das Märchen, daß „zahlreiche politische Gefangene“ dort schmachteten, wurde allgemein geglaubt. Der Gouverneur traute sich nicht, seinen Gefangenen zu fesseln, in den Keller zu relegieren oder gar in eine Zwangsjacke zu stecken. Er bat den König, den Marquis zu „versetzen“, und da man seine grausamen Perversionen kannte, wurde er schließlich in das Spital für geisteskranke Kriminelle nach Charenton überführt. Als später die Revolution im vollen Gang war, wurde er dort entlassen und beteiligte sich dann hochpolitisch auf der äußersten Linken. Unter Napoleon wanderte er später wieder nach Charenton, wo er unter wahnsinnigen Verbrechern „linke“ Theaterstücke inszenierte. Er starb während der Hundert Tage Napoleons, und wird heute wieder von der Neulinken gefeiert. 23)Als Pornograph zeigte er eine unerschöpfliche Phantasie. Der Gleichheitswahn, Perversitäten, systematischer Materialismus, fanatischer Haß auf Altar und Thron machten aus diesem völlig aus der Art geschlagenenen, aber strikt logisch bis zu den letzten Konsequenzen denkenden Philosophen eine Schlüsselfigur unserer jetzigen Zeit.
Doch was waren abgesehen von einer kleineren Schar von Denkern die geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen der Französischen Revolution? Gerne erwähnt man die „Ansteckung“ adeliger französischer Offiziere, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an der Seite der Aufständischen gekämpft hatten, mit freiheitlichen Ideen. 24)
Es gab auch solche, die den Charakter des Unabhängigkeitskrieges, der beileibe keine Revolution war und als solche auch gar nicht verstanden wurde, völlig verkannt hatten. 25)Da war dieser eitle Ehrgeizling Lafayette, der in der Französischen Revolution eine nicht unbedeutende Rolle spielte, aber auch Charles–Armand Tuffin, Marquis de la Rouërie, der ein Freund Washingtons war, dann aber als Hauptorganisator der Chouannerie in der Bretagne starb. 26)Hier also haben wir es zum Teil mit dem ersten großen Mißverständnis zwischen Europa und Amerika zu tun, denn die Founding Fathers , die Gründerväter, haßten – in den Worten Charles Beards – die Demokratie mehr als die Erbsünde. 27)Dazu kam die in französischen Intellektuellenkreisen fast abgöttische Verehrung des britischen Erbfeinds und seiner Einrichtungen, von der besonders Voltaire ergriffen war. Auch die Rolle Benjamin Franklins, des amerikanischen Gesandten in Paris, ist nicht zu unterschätzen. 28)
Soziale und echte wirtschaftliche Ursachen gab es kaum. In dieser Beziehung kam die Revolution, wie Pierre Gaxotte uns zeigte, als Blitz aus heiterem Himmel. 29)Die Leibeigenschaft, mit der Ausnahme einiger verstecker Winkel im Osten des Landes, war längst ausgestorben, doch gab es zwischen dem großen und dem kleinen Grundbesitz oft endlose juridische Streitigkeiten. Die Kette von Prozessen riß nie ab. Das zänkische Temperament des Franzosen, das rouspeter , wirkte sich hier besonders übel aus. 30)Der Neid blühte hier wie auch anderswo am europäischen Kontinent. Doch drohte und kam auch der Staatsbankrott, weil das Steuersystem völlig veraltet war und ohne Einberufung der Stände auch nicht reformiert werden konnte.
Hier allerdings lag eine echte Wunde vor. Frankreich (wie auch die meisten anderen Länder Europas) hatte ursprünglich das klassische Regimen Mixtum , die Mischregierung aus monarchischen, adeligen und populistischen Elementen, die auch von Thomas von Aquin gepriesen wurde. 31)Doch Ludwig XIV. hatte nie seine Schwierigkeiten mit der Fronde der Aristokraten vergessen, die ihn zweimal in der Zeit seiner Minderjährigkeit fast um Thron und Krone gebracht hätte. Auch das Pariser Parlement hatte für den Hochadel Partei ergriffen. Darum wurden dann die Drei Stände von Ludwig XIV. nicht mehr einberufen, und so blieb es auch bei seinen beiden Nachfolgern. Aus der verfassungsmäßigen war eine absolute Monarchie geworden. Es muß aber auch vermerkt werden, daß die corps intermédiaires , die vielen vermittelnden Körperschaften, wie die lokalen Parlamente, Gerichtshöfe, Kirche, Standesorganisationen, den königlichen Absolutismus doch wiederum sehr relativ gestalteten. Ein Ludwig XVI. konnte weder willkürlich Einkommensteuern vorschreiben, noch friedliche Bürger zum Wehrdienst zwingen oder gar die Diät seiner Untertanen vorschreiben, indem er ihnen den Genuß von Champagner, Weinen, Likören und Bier verbot. Solche Eingriffe ins Privatleben blieben den Demokratien vorbehalten.
Edmund Burke, der Vater des modernen Liberalkonservatismus, der vor dem Ausbruch der Revolution viel in Frankreich herumgereist war, gab uns ein sehr anschauliches Bild von den Ständen und ihrem gegenseitigen Verhältnis. Er notierte, daß der Adel einen viel familiäreren Kontakt mit den unteren Volksständen hatte als in England. Er setzte (mit Erstaunen) hinzu, daß der Adel in den Städten keinen und am Lande nur wenig Einfluß ausübte. Doch kritisierte er den Adel für seine krankhafte Anglomanie, die politisch sicher zu seinem Untergang führen würde. Moralisch war seiner Ansicht nach der Adel eher lax und zeigte keine große Bereitschaft, die Neureichen gesellschaftlich einzubeziehen. „All dieses Geschrei“, bemerkte er, „halte ich für gekünstelt und gewollt.“ 32)Über die katholische Hierarchie meinte er, sie sei „offen und nicht eng, Leute mit dem Herzen von Gentlemen, Männer mit Humor, die weder arrogant noch auch servil sind. Sie schienen mir Männer von Qualität zu sein.“ 33)
Doch muß man auch sagen, daß schon lange vor der Revolution eine liberalistische Welle über das Land gezogen war. Diese war größtenteils durch die „Aufklärung“ ausgelöst worden. Ludwig XVI. war zwar ein schwacher Herrscher, aber ganz und gar kein Finsterling; er behauptete sogar, daß er ohne die Encyclopédie (die er komplett besaß) nicht leben konnte. 1788 wurden die Reformierten emanzipiert (sieben Jahre nachdem Josef II. für die österreichischen Erblande das Toleranzpatent erlassen hatte); auch die Emanzipation der Juden hatte große Fortschritte gemacht. Zwar war der Dritte Stand 34)noch von der Offizierslaufbahn ausgeschlossen, aber dieses Gesetz wurde umgangen, indem man verdiente Unteroffiziere schnell adelte. 35)Dennoch strebte der Bürgerstand nach Gleichberechtigung, vor allem in gesellschaftlicher Beziehung, und dies, obwohl (oder gerade weil) Adel und Bürgertum sich gesellschaftlich trafen. Außerdem war es dem reichen Bürgertum in Frankreich möglich, sich durch Landkäufe in den Adel hineinzuschleichen. Bei Ausbruch der Französischen Revolution war schon ein beträchtlicher Sektor der Adelstitel erschwindelt. (Heute rechnet man, daß vom französischen Adel zwei Drittel bis drei Viertel „unecht“ sind, was in Mitteleuropa der Katalogisierungen halber unmöglich wäre.) 36)Sehr zahlreich war der Verdienstadel und der Beamtenadel – die Noblesse de la Robe . Man denke da nur an Männer wie Lavoisier und Malesherbes.
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