Doch da gibt es einen Trost in Form einer ausgleichenden, dialektischen Gerechtigkeit: Zwar zwingt die Bourgeoisie alle Menschen auf das proletarische Niveau hinunter, aber das Große, das Kolossale, die Masse wird überall siegen. Schon gibt es auch Kleinbürger, die, ob sie es nun wollen oder nicht, vom Proletariat verschlungen werden. Doch innerhalb des Proletariats gibt es bereits eine neue Kultur: Die Beziehungen des Proletariers zu Frau und Kind, zu Staat und Nation sind schon ganz andere als die des Bourgeois. Er hat kein Vaterland, 28)keine bourgeoise Moral, keine Religion. Und während in der Vergangenheit nur Minderheiten für ihre Interessen kämpften, ist die Bewegung der Proletarier eine unabhängige Bewegung, die der großen Mehrheit im Interesse der großen Mehrheit. Das klingt nicht nur, das ist tatsächlich höchst demokratisch – freilich auch nur so lange, als das Proletariat eine wirkliche Mehrheit bildet. (Was sie längst nicht mehr in den meisten industrialisierten Ländern tut.) Laut des Manifests ist jedoch sehr logisch der erste Schritt in der Revolution der Arbeiter der Kampf um die Verwirklichung der Demokratie, der Regierung der Mehrheit von Gleichen.
Alldies geschieht jedoch ‚automatisch‘, ist Teil eines wissenschaftlich erforschten historischen Gesetzes. Nur fragt man sich dann, wenn dem wirklich so ist, warum man dann revolutionäre Bewegungen organisieren soll? Revolutionen fordern Opfer – auf beiden Seiten!
Die bourgeoise Gesellschaft ist sowieso schon bankrott, lehrt uns das Manifest. Wenn man den Kommunisten vorwirft, sie wollen die bürgerliche Ehe abschaffen, so ist dies heuchlerisch, denn die allgemeine Promiskuität durch Ehebrüche am laufenden Band ist schon längst in der bürgerlichen Gesellschaft die Regel. Doch hatten Marx und Engels stets eine allmähliche, eine stufenweise Einführung des Kommunismus ins Auge gefaßt – über ein demokratisches Zwischenstadium. Durch dieses würde dann mit den Worten Carl Schmitts die „legale Weltrevolution“ durch Wahlen inszeniert werden können. 29)Daher auch die Begeisterung von Engels für die demokratische Republik als Sprungbrett für den Kommunismus. 30)Daher auch die Begeisterung der sowjetischen Schriftgelehrten für diese Regierungsform westlich der Grenzen des „Sozialistischen Vaterlands“. 31)
Und wie war nun das Programm für die Eroberung des Staates durch das Proletariat, ein Prozeß, der sehr wohl – falls das Proletariat eine riesige Mehrheit bildet – im parlamentarischen Rahmen durchgeführt werden kann? In Rußland kam es allerdings ganz anders, wie ja auch in China und in den Ländern, die von Roten Armeen militärisch erobert wurden.
Wir lesen: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benützen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in die Hände des Staates, d. h. des als Herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“
(Man beachte hier die Worte „Staat“, „zentralisieren“ und die nach dem Gesagten doch widersprüchliche Begeisterung für eine Produktionsvermehrung – doch auch nur durch die ‚Fabrikssklaverei‘!)
Dann aber wird freimütig zugegeben, daß diese ‚Operationen‘ nicht nur „despotische Eingriffe“ benötigen, sondern auch „ökonomisch unzureichend und unhaltbar“ erscheinen werden, aber „zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind“. Das wird Krisen hervorrufen, vielleicht sogar Hunger und Elend, ganz so wie Stalins Vernichtung des freien Bauernstandes. Diese hat das Leben von Millionen gekostet, aber schließlich bat ideologischer Machthunger stets den Vorrang.
Wie sieht aber nun bei Marx und Engels das sicherlich demokratische (mehrheitlich-egalitäre) Verfahren zur Festigung der Herrschaft des Proletariats und zur Verwirklichung des Kommunismus konkret aus?
1) Enteignung des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente für Staatsausgaben.
2) Starke Progressivsteuer.
3) Abschaffung des Erbrechts.
4) Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.
5) Zentralisierung des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit ausschließlichem Monopol.
6) Zentralisierung des Transportwesens in den Händen des Staats.
7) Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.
8) Gleicher Arbeitszwang für alle. Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau. (Den „Idiotismus des Landlebens“ revitalisierend?)
9) Vereinigung der Betriebe von Ackerbau und Industrie. Einwirkung auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.
10) Öffentliche und unentgeltliche Erziehung der Kinder. Beseitigung der Fabriksarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.
Was dann folgt ist eine Denunzierung aller sozialistischen Parteien, Gruppen und Bewegungen, besonders aber solcher, die einen christlichen, bürgerlichen oder gar aristokratischen Charakter tragen. Doch wird der Bourgeoisie weitere Schützenhilfe in ihrem Kampf gegen Monarchie und Feudalherrschaft versprochen. Das Manifest endet mit den Worten: „Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder. Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnungen. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Proletarier aller Länder vereinigt euch!“
Eine aufmerksame Lektüre dieses Manifests ist nicht nur deswegen interessant, weil es die Mentalität der beiden Autoren grell beleuchtet, sondern auch weil es voller innerer Widersprüche und Kurzschlüsse ist. Das Hin und Her zwischen (parlamentarischer) Demokratie und Revolution, die Verdammung und Bekräftigung des Agrarsektors, die „Entfremdung“ des Industriearbeiters, der doch keine andersgeartete Arbeitsmodalität in den USA und der UdSSR besitzt, der brutale Etatismus, der in und zwischen den Zeilen zu lesen ist, das alles spricht eine doch recht deutliche Sprache. Nachdenklich muß es auch stimmen, daß im Manifest nach der herzlich negativen Beschreibung der verschiedenen Formen des Sozialismus, Marx und Engels sich nicht ein einzigesmal für Sozialisten, sondern für die einzig echten und wahren Kommunisten halten. 33)Uns aber sollte das Manifest zu einer kuriosen Gewissenserforschung inspirieren: Wir sollten uns einmal ehrlich fragen, wieviel von diesem marxistischen Gedankengut die meisten unter uns längst schon aufgenommen haben und wie weitgehend die Marx–Engels’sche Programmatik in der immer noch Freien Welt schon verwirklicht wurde. Selbst in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten haben die Kinder und Enkel der alten liberalen Tradition sich Ideen aus dem Kommunistischen Manifest angeeignet. Den schönen Satz unserer Autoren, daß die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, finden wir selbst in einer päpstlichen Enzyklika. 34)
Punkt eins des Programms, die gewaltsame Agrarreform, ist schon vor dem Zweiten Weltkrieg massiv in der Tschechoslowakei, in Estland, Lettland Jugoslawien und Rumänien, in geringerem Ausmaß aber auch in Ungarn, Spanien und Polen, durchgeführt worden, wenn auch teils aus nationalpolitischen Gründen, teils auch um den Bauernstand zu fördern, nicht aber um den Staat zu bereichern. 35)Doch die radikalsten Agrarreformen vor dem Ersten Weltkrieg wurden in Rußland im Zuge der Befreiung der Leibeigenen (1861) und dann durch Stolypin nach 1906 durchgeführt.
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