Bewegungslos saß er da, die Feder über dem Papier gezückt, seine präzise Handschrift vor sich. Das leise Ticken der Pendeluhr in der Ecke wirkte furchtbar laut.
Auch Powers sagte nichts. Er sah Matthew weiter an und bemerkte das Aufblitzen von Bestürzung – Angst , sogar – im Gesicht des jungen Mannes, bevor sich wieder eine falsche Maske der Gefasstheit darüber senkte. Schließlich faltete Powers die Hände und hatte den Anstand wegzuschauen.
»Ich glaube«, sagte er, »dass Isaac nur einen kurzen Aufenthalt für Euch im Sinn hatte, als er Euch zu mir schickte. Nicht mehr als ein Jahr. Vielleicht hatte er geglaubt, dass Ihr mehr verdienen würdet. Ich glaube, er wollte, dass Ihr nach England geht und dort studiert. Und das könnt Ihr noch, Matthew, Ihr könnt es noch. Aber ich muss Euch warnen, dass es in diesen Universitäten für einen jungen Mann ohne Abstammung unfreundlich hergeht, und die Tatsache, dass Ihr hier geboren und in einem Waisenhaus aufgewachsen seid … Ich bin mir nicht sicher, ob Eure Bewerbung nicht ein Dutzend Male übergangen werden würde, selbst wenn ich Euch Empfehlungsschreiben über Euren Charakter und Eure Fähigkeiten ausstelle.« Er runzelte die Stirn. »Selbst wenn ein Brief von jedem einzelnen Richter dieser Kolonie beiliegen würde. Es gibt zu viele mächtige und reiche Familien, die möchten, dass ihre Söhne Anwälte werden. Nicht Richter für Amerika, versteht Ihr, sondern Anwälte für England. Man verdient mit einer eigenen Anwaltskanzlei wesentlich mehr, als wenn man für das Wohl der Allgemeinheit richtet.«
Matthew fand seine Stimme wieder, auch wenn sie wie erstickt klang. »Aber was soll ich dann tun? «
Powers antwortete nicht, dachte jedoch offensichtlich nach. Seine Augen schauten in die weite Ferne und in Gedanken drehte er etwas hin und her, um es aus jedem Blickwinkel zu betrachten.
Matthew wartete, kam sich vor, als sollte er sich entschuldigen und nach Hause gehen, um sich im Old Admiral vom Rest seines Taschengeldes ein paar Krüge Gesöff zu gönnen. Aber was würde eine betrunkene Flucht vor der Realität nutzen?
»Ihr könntet immer noch nach England gehen«, sagte der Richter schließlich. »Ihr könntet einem Kapitän eine kleine Summe bezahlen und auf dem Schiff arbeiten. Da kann ich Euch behilflich sein. Vielleicht würdet Ihr in einer Kanzlei in London Anstellung finden und nach einer Weile könnte Euch möglicherweise jemand mit mehr politischem Einfluss als ich einen Studienplatz an einer guten Universität beschaffen. Wenn Ihr das wirklich wollt, meine ich.«
»Natürlich will ich das! Warum sollte ich das nicht?«
»Weil … es vielleicht noch etwas Besseres für Euch geben könnte«, gab Powers zurück.
»Etwas Besseres?«, fragte Matthew ungläubig. »Was könnte denn besser sein als das?« Er erinnerte sich an seinen Stand. »Sir, wollte ich sagen.«
»Eine Zukunft. Jenseits der Schweinediebe und des in den Straßen kämpfenden Pöbels. Schaut Euch die Fälle an, die wir gemeinsam angehört haben, Matthew. Stechen davon einige besonders heraus?«
Matthew zögerte. Grübelte. Bei den meisten Fällen handelte es sich tatsächlich um kleinere Diebstähle oder Kleinverbrechen wie Sachbeschädigung und üble Nachrede. Die einzigen beiden Fälle, die ihn nicht losgelassen und seinen Verstand zum Arbeiten gebracht hatten, waren der Mord am »Blauen Bettler« gewesen, gleich im ersten Jahr, als er in New York angekommen war, und dann die todverursachende Vogelscheuche auf Crispins Bauernhof im letzten Oktober. Alles andere, so schien ihm jetzt, war wie im Schlaf zu erledigen gewesen.
»Wie ich mir dachte«, fuhr Powers fort. »Es sind nicht mehr als die üblichen öden Einzelheiten menschlicher Vergehen, Fahrlässigkeit oder Dummheit, nicht wahr?«
»Aber … genau das sind die Dinge, die üblicherweise mit Strafverfahren geahndet werden.«
»Ganz genau, denn darum geht es beim Dienst für das Volk. Ich frage Euch nur, Matthew, ob Ihr wirklich Euer ganzes Leben diesen – wie soll ich sagen – profanen Dingen widmen wollt?«
»Euch hat das aber doch gut gepasst, oder nicht, Sir?«
Der Richter lächelte schwach und hielt seinen zerfransten Ärmelbund hoch. »Ungefähr so gut wie dieses Hemd. Aber es stimmt schon, ich bin mit meinem gewählten Beruf glücklich. Oder … er gefällt mir, wäre wohl eine zutreffendere Bezeichnung. Aber erfüllt oder fordert er mich? Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe mir diese Position hier ja nicht freiwillig ausgesucht, Matthew. Im Laufe meines Londoner Berufslebens habe ich einige Urteile gefällt, mit denen ich mir leider einflussreiche Feinde gemacht habe. Ehe ich mich versah, wurde ich aus meinem Amt gedrängt, und der einzige Weg, der meiner Familie und mir noch offenstand, führte über den Atlantik, entweder nach Barbados oder New York. Angesichts der Umstände habe ich das Beste daraus gemacht, aber jetzt …« Er verstummte.
Matthew hatte das Gefühl, dass es in diesem Gespräch um mehr ging, als die Worte zu vermitteln wussten. Er hakte nach: »Ja, Sir?«
Der Richter kratzte sich am Kinn und holte Luft, um etwas zu sagen. Dann stand er auf und ging ans Fenster, lehnte sich an den Rahmen und schaute auf die Straße hinab. Matthew drehte sich auf seinem Stuhl, um ihn weiter anzusehen.
»Ende September werde ich mein Amt niederlegen«, sagte Powers. »Und zugleich auch New York verlassen. Das ist es, was ich heute mit Richter Dawes zu besprechen habe … obwohl er davon noch nichts weiß. Ihr seid der Erste, dem ich es sage.«
»Ihr geht fort ?« Das hatte Matthew nicht kommen sehen. Sein erster Gedanke war, dass der Mann von gesundheitlichen Problemen zu diesen Schritten gezwungen wurde. »Erfreut Ihr Euch nicht bester Gesundheit, Sir?«
»Mir geht es gut. In der Tat geht es mir, seit ich diese Entscheidung getroffen habe, geradezu ausgezeichnet. Und ich bin erst in den letzten paar Tagen zu diesem Entschluss gekommen, Matthew. Es ist nichts, das ich vor Euch geheim gehalten habe.« Er wandte sich vom Fenster ab, um dem jungen Mann seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Sonnenlicht strömte ihm über die Schultern und den Kopf. »Ihr habt mich hin und wieder von meinem älteren Bruder Durham sprechen hören?«
»Jawohl, Sir.«
»Ich glaube, ich habe Euch erzählt, dass er Botaniker ist. Und dass er in der Carolina-Kolonie für Lord Kent eine Tabakplantage führt?«
Matthew nickte.
»Durham hat mich gebeten, ihm zu helfen, da er sich ganz auf die botanischen Aspekte konzentrieren möchte. Lord Kent kauft immer mehr Land, und die Plantage ist inzwischen so groß geworden, dass es zu viel Arbeit für ihn ist. Es würde sich für mich um juristische Arbeit handeln, Verträge mit Lieferanten und dergleichen, und zugleich auch ein verwaltender Posten sein. Und der Verdienst ist das Dreifache von dem, was ich jetzt bekomme.«
»Oh«, sagte Matthew.
»Judith hat sich sehr dafür ausgesprochen«, fuhr der Richter fort. »Die besseren New Yorker Kreise haben sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Aber in der Nähe der Plantage wächst eine Stadt heran, und Durham erwartet davon große Dinge. Meinen Söhnen gegenüber habe ich noch gar nichts erwähnt. Ich nehme an, dass Roger mit uns kommen wird, aber Warren wird vermutlich bleiben, da seine Arbeit so wichtig ist. Abigail hat natürlich ihre eigene Familie und die Enkelkinder werden mir fehlen, aber mein Entschluss steht fest.«
»Aha«, war Matthews Antwort darauf. Seine Schultern fielen nach vorn. Er fragte sich, ob Cecily diesen Morgen sein Pech an ihm gerochen hatte. Alles in allem sollte er sich am besten betrinken und dann wieder ins Bett legen.
»Das ist nicht alles, was ich an Neuigkeiten für Euch habe«, sagte Powers. Der helle Klang seiner Stimme ließ Matthew aufhorchen, wobei er nicht wusste, ob er noch mehr schlechte Nachrichten zu erwarten hatte. »Glaubt nicht, dass ich weggehe, ohne einen neuen, interessanten Posten für Euch zu finden. Möchtet Ihr weiter einem Richter dienen?«
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