Es gelang ihm auch wirklich. Er hörte kein Geräusch und keine Stimme, als er die Tür öffnete; kein gottloser Kopf, in ein zerrissenes Halstuch gewickelt, sah zum Fenster oben heraus. Als die Sonne ihre ganze Scheibe über die flache Linie des Horizontes erhob und aus der langen finstern Durchsicht des gebahnten Weges mit seiner traurigen Allee von kleinen Bäumen Feuer schlug, bewegte sich ein schwarzer Punkt den Weg entlang und trat bisweilen in die funkelnden Pfützen von Regenwasser, daß es in die Höhe spritzte –, und dieser schwarze Punkt war Johann Baptist Cavaletto, der seinem Gönner davonlief.
Zwölftes Kapitel. Der Hof zum blutenden Herzen.
In London selbst, wenn auch auf dem alten Landweg nach einer bedeutenden Vorstadt, wo in den Tagen William Shakespeares, des Schriftstellers und Schauspielers, königliche Jagdsitze sich befanden, jetzt aber nur noch Raum für das Jagdvergnügen von Menschenjägern ist, lag der Hof zum blutenden Herzen. Ein Ort, der sich in seinem Aussehen und seinen Verhältnissen sehr verändert, aber immer noch das Gepräge seiner früheren Größe nicht ganz verloren hat. Zwei bis drei mächtige Reihen Schornsteine und einige große dunkle Räume, die man nicht mit Wänden durchzogen und deren alte Proportionen man nicht durch Zerteilung unkenntlich gemacht, gaben dem Hof einen gewissen Charakter. Er wurde von alten Leuten bewohnt, die ihren Ruhesitz unter seinem verschwundenen Glanze aufschlugen, wie die Araber der Wüste ihre Zelte unter den herabgefallenen Quadern der Pyramiden; es war jedoch bei den Familien in dem Hofe das behagliche Gefühl vorherrschend, daß er einen Charakter hatte.
Als ob die künftige Stadt sich bereits in dem Boden selbst, auf dem dieser Hof stand, blähte, hatte sich um den besagten Hof die Erde so hoch aufgeworfen, daß man über eine Treppe dahin gelangte, die einen Teil des ursprünglichen Zugangs bildete, während man aus demselben durch einen niederen Torweg in ein Labyrinth von häßlichen Straßen kam. Diese führten nach allen Seiten, bis man endlich über mancherlei Krümmungen wieder in die Ebene gelangte. Auf einer Seite des Hofes, über dem Torweg, befand sich die Werkstätte von Daniel Doyce, die oft so schwer wie ein blutendes Herz aus Eisen von dem Geklirr von Metall auf Metall erdröhnte.
Die Meinungen des Hofes waren bezüglich der Herkunft seines Namens geteilt. Die Praktischeren unter den Bewohnern blieben bei der Sage eines Mordes. Die empfindsameren, phantasiereicheren Insassen, mit Einschluß des zarten Geschlechts, hielten sich an die Legende von einer jungen Dame, die in früheren Zeiten von einem grausamen Vater in ihrem Zimmer eingekerkert wurde, weil sie ihrem treuen Geliebten treu blieb und sich weigerte, den Gemahl, den er ihr gewählt, zu heiraten. Die Legende erzählte, wie die junge Dame an ihrem Fenster oben hinter den Gittern oftmals gesehen wurde, ein Lied vom verlorenen Geliebten singend, dessen Refrain lautete: »Blutend Herz, blutend Herz, mußt verbluten«, bis sie endlich starb. Die mörderische Partei warf dagegen ein, daß dieser Refrain notorisch die Erfindung einer Stickerin, einer alten Jungfer und romantischen Person, sei, die noch im Hofe wohne. Aber, sofern alle Lieblingssagen mit den Neigungen in Verbindung stehen und weit mehr Menschen sich verlieben als Morde begehen, – was, so schlecht wir auch sind, hoffentlich bis zum Ende der Welt die göttliche Fügung sein wird, unter der wir leben – so behielt die Geschichte vom »Blutend Herz, blutend Herz, mußt verbluten«, weitaus die Oberhand. Keine Partei wollte auf die Altertumsforscher hören, die gelehrte Vorlesungen in der Nachbarschaft hielten und zeigten, daß das »Blutende Herz« das heraldische Abzeichen der alten Familie sei, der das Besitztum früher gehört. Und wenn man bedenkt, daß das Stundenglas, das sie von Jahr zu Jahr umdrehten, mit dem irdischsten und gemeinsten Sand gefüllt war, so hatten die Bewohner des Hofes zum blutenden Herzen Grund genug, sich dagegen zu verwahren, daß man sie des einzigen, kleinen goldenen Korns von Poesie berauben wollte, das darin glänzte.
Daniel Doyce, Mr. Meagles und Clennam stiegen über die Treppe in den Hof. Sie durchschritten ihn und gingen zwischen den offnen Türen zu beiden Seiten vorbei, die reichlich mit mageren Kindern besetzt waren, die dicke Kinder hüteten. Dann kamen sie an das entgegengesetzte Ende, den Torweg. Hier blieb Arthur Clennam stehen, um sich nach der Wohnung des Gipsers Plornish umzusehen, dessen Namen nach echter Londoner Sitte Daniel Doyce bis zu dieser Stunde nie gesehen noch gehört.
Und doch war er so leicht zu sehen, wie Klein-Dorrit gesagt: über einem mit Kalk beworfenen Torweg in der Ecke, in der Plornish eine Leiter und einige Töpfe stehen hatte. Das letzte Haus im Hof zum blutenden Herzen, das sie als seine Wohnung beschrieben, war ein großes, an verschiedene Bewohner vermietetes Gebäude. Aber Plornish deutete auf höchst sinnreiche Art an, daß er im Parterre wohne, indem er eine Hand unter seinen Namen gemalt hatte, deren Zeigefinger (an dem der Künstler einen Ring und einen schön geformten Nagel angebracht) alle Frager nach diesem Zimmer wies.
Von seinen Begleitern sich trennend, nachdem er eine zweite Zusammenkunft mit Mr. Meagles verabredet, ging Mr. Clennam allein nach dem Eingang und klopfte mit dem Finger an das Parterrezimmer. Es wurde alsbald von einer Frau geöffnet, die ein Kind auf dem Arme hatte, und deren unbeschäftigte Hand rasch den obern Teil ihres Kleides in Ordnung brachte. Das war Mrs. Plornish, und diese mütterliche Beschäftigung war die Beschäftigung von Mrs. Plornish während des größten Teils ihres wachen Daseins.
»Ist Mr. Plornish zu Hause?«
»Nein, mein Herr«, sagte Mrs. Plornish, eine höfliche Frau, »die Wahrheit zu sagen, er ist ausgegangen, um nach einem Geschäft zu sehen.«
»Die Wahrheit zu sagen«, war eine Redensart von Mrs. Plornish. Sie hätte die Menschen unter allen Umständen so wenig wie möglich getäuscht; aber sie hatte die Eigenheit, in dieser vorsichtigen Weise zu antworten.
»Glauben Sie, daß er bald zurück sein wird, wenn ich auf ihn wartete?«
»Ich erwarte ihn schon seit einer halben Stunde jeden Augenblick«, sagte Mrs. Plornish. »Treten Sie ein, Sir.«
Arthur trat in das ziemlich dunkle und dumpfige, obgleich sehr hohe Parterrezimmer und setzte sich auf den Stuhl, der ihm hingestellt worden war.
»Die Wahrheit zu sagen, Sir, ich schlag' es hoch an«, sagte Mrs. Plornish, »ich halte es für sehr gütig von Ihnen.«
Er wußte nicht recht, was sie damit meinte; und dies Gefühl, das sich in seinen Augen aussprach, entlockte ihr eine Erklärung.
»Es kommen nicht viele an diesen Ort der Dürftigkeit, die es der Mühe wert halten, ihren Hut abzunehmen«, sagte Mrs. Plornish. »Aber man denkt doch mehr darüber nach, als die Leute glauben.«
Clennam, der sich verlegen fühlte bei dem Gedanken, daß diese unbedeutende Höflichkeit etwas Außergewöhnliches sei, entgegnete: das sei nicht der Rede wert. Und sich hinabbeugend, um einem andern kleinen Kinde die Wangen zu kosen, das auf dem Boden saß und ihn anblickte, fragte er Mrs. Plornish, wie alt der hübsche Knabe sei.
»Gerade vier Jahre, Sir«, sagte Mrs. Plornish. »Es ist wirklich ein hübscher kleiner Junge, nicht wahr, Sir? Aber der da ist etwas kränklich.« Sie wiegte den Säugling sanft in den Armen, während sie dies sagte. »Sie werden mir gütigst erlauben, Sie zu fragen, Sir, ob es ein Geschäft ist, wegen dessen Sie gekommen?« fügte Mrs. Plornish neugierig hinzu.
Sie fragte so besorgt, daß, wenn er irgendeine Art von Haus gehabt, er es lieber einen Fuß dick hätte mit Gips bewerfen lassen, als nein zu sagen. Aber er war genötigt, nein zu antworten; und er sah einen Schatten von Enttäuschung über ihr Gesicht hinziehen, während sie tief aufseufzte und nach dem herabgebrannten Feuer blickte. Er sah indessen, daß Mrs. Plornish eine junge Frau war, die durch die Armut etwas schlampig an sich selbst und in ihrer Umgebung geworden; Armut und Kinder hatten sie so herumgezogen, daß deren vereinte Kräfte bereits auch Runzeln in ihr Gesicht gezogen.
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