Dem Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit sowie auch dem Umgang mit meiner sportlichen Konkurrenz vermochte ich in jener Zeit nicht immer mit Freude zu begegnen. Es folgten mehrere Tiefschläge bzw. Lernprozesse in aller Öffentlichkeit: Bei der Marathon-Titelverteidigung 1998 musste ich wegen Erbrechens aufgeben, ebenso bei der Schweizer Meisterschaft über 5000m. Auch die Qualifikation für die Halbmarathon-Weltmeisterschaft entging mir ganz knapp, da ich mich im sportlichen Bereich in vielerlei Hinsicht fremdsteuern ließ.
Dies alles behagte meinem Inneren nicht, und so wurde ich in der Folge immer wieder mit meinen eigenen Schwächen und unvorteilhaften Gedankenmustern konfrontiert. Zu allem Überfluss traten nun auch unzählige Menschen mit allerlei vermeintlichen Patentrezepten an mich heran, wie ich diese im Leistungssport durchaus häufige Problematik in den Griff bekommen könne. Viele erfahrene Athleten und Trainer bemühten sich um mich, und ich bekam etliche gut gemeinte Tipps, Jobangebote und dergleichen.
Glücklicherweise wurde mir bald klar, dass es für mich nun nicht darum ging, bloß äußerlich meinen Berufs- und Trainingsalltag umzustellen und zu optimieren. Vielmehr war es eine deutliche Aufforderung an mich, wieder vermehrt auf meine innere Stimme zu hören, wenn ich in diesem Business weiterhin erfolgreich sein wollte. Denn es konnte doch nicht sein, dass ich als begeisterte Läuferin körperlich zwar in Topform war, aber durch vielfältige äußere Einflüsse – Verbände, Trainer, Termine, Medien usw. – im entscheidenden Moment meine Leistung nicht abzurufen vermochte. Mein Ego hatte mit der übermäßigen Orientierung nach außen meine Intuitionsfähigkeit und damit auch meine Erfolge sabotiert.
Ich erkannte: Laufen musste ich immer noch selber, das konnte mir niemand abnehmen. Auch die Begeisterung fürs Laufen konnte mir niemand von außen vermitteln. Man konnte sie mir höchstens wegnehmen. Um dies zu verhindern, war ich nun aufgefordert zu lernen, mich auf mich selbst zu konzentrieren und auf meine innere Stimme zu achten. Wie massiv unser Körper sofort reagiert, wenn man mit negativen Emotionen an eine Sache herangeht, ist gerade im Ausdauersport sehr intensiv zu erleben.
Durch diese veränderte Einstellung gelang es mir allmählich, sowohl Erfolge als auch Misserfolge ganz einfach als neutrale Erfahrungen und als Lernprozesse wahrzunehmen. Meine Entschlossenheit, mich vor allem in diesen mentalen Aspekten weiter zu verbessern, war groß, und die Ergebnisse waren höchst erfreulich: Meine Konkurrentinnen entwickelten sich zu Freundinnen, aus Trainingscamps wurden Ferien, aus Wettkämpfen willkommene Erlebnisse, die mich auf meinem Lebensweg und in meiner Persönlichkeitsentwicklung weiterbrachten.
Zu Beginn des Jahres 1999 hatte ich mein Leben wieder weitestgehend im Griff und wechselte beruflich auf ein 50%-Pensum in eine kardiologische Arztpraxis. Die Erwartungen im Sport waren nach wie vor hoch, aber ich vermochte ihnen fortan ganz anders zu begegnen.
Und siehe da, die Erfolge im Wettkampf stellten sich rasch wieder ein: Während der ersten sechs Monate lief ich zwar lediglich drei Rennen – drei Schweizer Meisterschaften, was den Druck zusätzlich erhöhte –, doch diese endeten äußerst erfolgreich: Gold über die Marathon-Distanz, Silber über die Halbmarathon-Distanz und Bronze über die Cross-Langdistanz. Meine persönlichen Bestzeiten konnte ich nochmals um etliche Minuten verbessern. Im Herbst 1999 lief ich im Elite-Feld anlässlich des Amsterdam-Marathons auf Rang 5, und es schien noch viel mehr sportliches Potenzial vorhanden zu sein, welches ich in den kommenden Jahren umzusetzen gewillt war.
Doch das Schicksal hatte andere Pläne mit mir – zum Glück! Im November desselben Jahres wurden wir in einen spektakulären Autounfall verwickelt, der von einem betrunkenen Lenker verursacht wurde und mehrere Fahrzeuge erfasste. Dieser Unfall und dessen Folgeerkrankungen machten für mich während Wochen mehrere Klinikaufenthalte notwendig, und an den Nebenwirkungen litt ich noch Monate danach. An Wettkämpfe war im Olympiajahr 2000 nicht zu denken, und so strich ich die gesamte Wettkampfsaison und nahm bewusst Abstand vom ganzen Sportgeschehen.
Offensichtlich wurde ich geradezu gezwungen, meinem Leben noch andere Farbtupfer zu verleihen. So entstand mein tiefer Wunsch, nun eine Babypause einzulegen, dem auch bald entsprochen wurde: Im Herbst 2000 wurde ich schwanger, und daraufhin nahm mein Leben eine komplette Wende, die ich im vorliegenden Buch beschreiben werde.
Seit diesen Prozessen kann ich, zumindest was meine persönlichen Erfahrungen betrifft, deutlich betonen: Zu einem erfolgreichen Spitzensportler wird man nicht allein nur über professionelles körperliches Training, sondern hauptsächlich durch innere Entwicklungsprozesse – sofern man bereit ist, sich wirklich auf sie einzulassen. Eine der in diesem Zusammenhang für mich wichtigsten Erkenntnisse war, dass man sich allzu oft selbst Grenzen setzen lässt durch die gut gemeinten Tipps und Ratschläge anderer. Doch andere können immer nur aus ihrem eigenen Erfahrungshorizont heraus sprechen, und keiner ist in der Lage, uns unsere persönlichen Lernprozesse abzunehmen.
Wer hingegen in Eigenverantwortung und mit Selbstvertrauen und intuitiver Intelligenz handelt, wer mutig neue Wege zu gehen bereit ist, der wird in jeder Extremsituation bestehen können. Aus sportlicher Sicht gesehen wird er womöglich über Jahre hinweg imstande sein, mit Topleistungen aufzuwarten, ohne dabei über Leichen zu gehen oder seine Gesundheit und seine tiefe Freude für den Sport preiszugeben. Wenn wir aus unseren Lernprozessen tatsächlich lernen, dann steigen auch unsere Belastungsfähigkeit, unsere allgemeine Freude und Gelassenheit im Leben, unsere Authentizität und Integrität.
Trotz der beiden folgenden Babypausen in den Jahren 2001 und 2003 blieb der Laufsport weiterhin mein geliebtes Hobby. Nach der ersten Phase zwischen 1996 und 2000 durfte ich zwischen 2007 und 2015 ein zweites Mal als Kaderathletin im Schweizer Wettkampfteam mitwirken.
Während dieser Jahre konnte ich nochmals insgesamt 18 Elite-Medaillen in diversen Laufdisziplinen (Marathon, Halbmarathon, 10’000m, Berglauf und Crosslauf) feiern. Das Marathonlaufen lag mit den schwierigen familiären Umständen und dem Geschäft kaum mehr drin, daher fokussierte ich mich in jenen Jahren insbesondere auf den internationalen Berglauf und lief insgesamt bei elf Europa- und Weltmeisterschaften, davon 8mal in die Top Ten. Parallel dazu feierten wir schöne Erfolge mit dem Schweizer Berglauf-Nationalteam (im Trio) und errangen insgesamt 7 EM- und WM-Medaillen für das Team Suisse, darunter auch den Europameistertitel im Jahre 2007. Gerade diese Erfolge mit dem Nationalteam stellten für mich großartige und wertvolle Team-Erfahrungen dar.
Doch der Sport war stets nur eines von mehreren Segmenten in meinem Leben. Privat und geschäftlich lief in diesen Jahren mindestens genauso viel. Dadurch, dass sich meine Selbstwahrnehmung veränderte und ich mich innerlich weiterentwickelte, veränderten sich auch meine Prioritäten und Lebensziele, was sich früher oder später auch auf unsere zwanzigjährige Partnerschaft auswirkte. Nach einer einvernehmlichen Trennung und Scheidung trennten sich im Jahre 2012 meine Wege von jenen meines Ehemannes. Ich blieb mit den beiden Kindern im Eigenheim wohnen und übernahm die Kindererziehung. So war die Situation bereits zuvor geregelt gewesen, und so ist sie für uns alle bis heute stimmig.
Die Kinder Christina und Mario waren zum Zeitpunkt der Scheidung elf bzw. neun Jahre alt und besuchten die vierte bzw. zweite Schulklasse. Sie kamen mit der neuen Situation rasch zurecht und pflegten auch nach der Trennung weiterhin einen guten Kontakt zu ihrem Vater, der in der Nähe wohnt.
Unser neuer Familienalltag zu dritt harmonisierte sich in der Folge sehr schön. Wenige Monate nach der Scheidung gab ich auch meine Tätigkeit im eigenen Betrieb nach 15 Jahren auf und ließ uns erst einmal ein halbes Jahr Zeit, um alles zu verarbeiten und die neue Situation möglichst stressfrei auf uns zukommen zu lassen, ohne mich beruflich schon neu zu positionieren. Klar war, dass ich später wieder in meinem angestammten Gebiet im Gesundheitswesen arbeiten wollte. Nebenbei trainierte ich als Kaderathletin noch sechs Trainingseinheiten pro Woche, die sich wie früher gut in den Alltag integrieren ließen. Ich stand also nach wie vor im Wettkampfmodus, allerdings im Bewusstsein, dass ich wohl demnächst vom gesamten Wettkampfsport zurücktreten würde.
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