1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Am 28. November 2003 kam unser Sohn Mario zur Welt, rund zweieinhalb Jahre nach den Zwillingen. Damit war unsere kleine Familie komplett.
Allerdings folgte nun wieder eine sehr anstrengende erste Zeit. Ich hatte nachts nicht nur alle zwei Stunden Christina zu sondieren, sondern zusätzlich auch noch Mario zu stillen. So waren wir Eltern jede Nacht am Rotieren. Mario war glücklicherweise ein ungemein zufriedenes Baby und schlief schon bald durch. Christina war meist lange wach, weinte jedoch selten, war stets zufrieden und schien im Rahmen der Umstände insgesamt topfit zu sein. Es war mir ein Rätsel, woher dieses Kind seine Lebensenergie nahm, denn es stand jeden Morgen strahlend am Gitter seines Bettchens, als ob nichts gewesen wäre.
Jede Mutter weiß, wie unleidlich Kleinkinder sein können, wenn sie hungrig sind, nicht genügend geschlafen haben oder gar krank sind. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es erst ist, wenn ein Kind unter konstantem Hungergefühl leidet und fast im Dauerzustand mit gesundheitlichen Rückschlägen zu kämpfen hat. Oft konnte Christina vor lauter Hunger nicht länger als zwei Stunden am Stück schlafen, oder sie litt an plötzlichen Bauchkrämpfen. Ihre herzzerreißenden Schmerzensschreie, die von diesen Bauchkrämpfen ausgelöst wurden und die jahrelang jede Nacht zu vernehmen waren, gingen durch Mark und Bein. Erstaunlich und aus medizinischer Sicht nicht zu erklären war allerdings die Tatsache, dass sie während des Tages niemals klagte oder unleidlich war.
Tagsüber war das Mädchen immer sehr zufrieden und brauchte auch keinen zusätzlichen Schlaf. Sie zeigte weder Ungeduld noch Klagen, weder Jammern noch Quengeln oder irgendeine andere negative Energie. Sie war trotz ihrer höchst herausfordernden Situation meist ruhig und friedvoll, wenngleich ihr die körperlichen Strapazen ins Gesicht geschrieben standen – zeitweise mehr, zeitweise weniger. Ich ahnte damals nicht, dass sie konstant mit sehr lichtvollen höheren Sphären in Verbindung stand. Ihre tiefe innere Zufriedenheit und ihr strahlendes Lachen spendeten mir tagtäglich eine unsagbare Energie. Ja, sie verzauberte die Menschen geradezu. So gelang es auch mir, nicht zu klagen oder gar zu verzweifeln. Mir war durchaus bewusst, das alles noch viel schlimmer hätte sein können. In Zahlen ausgedrückt, hatte Christina lediglich eine Chance von etwa 12%, die Strapazen ihrer extremen Frühgeburt ohne spätere Folgeschäden zu überstehen. Außerdem bekam ich während der Jahre im Kinderspital derart viele wirklich kranke Kinder zu Gesicht, dass ich Christinas Leben ganz einfach als ein großes Geschenk ansah, wenngleich es wohl eher einem Wunder gleichkam.
Wie erstaunlich sich ein Leben durch seinen eigenen Willen und durch die schöpferische Energie durchsetzen kann, beschrieb Christina Jahre später mit den folgenden Worten: «Biologische Berechnungen können so perfekt sein, dass sie sich gegen die mathematischen Berechnungen stellen. Wenn dein Wille auf den Willen des Lebens ausgerichtet ist, dann erwacht eine Kraft in dir, die so unaufhaltsam und so unanfechtbar ist, dass sich die Kräfte des Universums in Ehrerbietung verneigen. Selbst die widrigsten unter ihnen haben nichts entgegenzusetzen angesichts der klaren Absichten, die das Leben hat. Denn ein Leben kann jedes Multiversum bis auf seinen Kern erschüttern. Jeder Mensch, jedes Wesen hat einen Instinkt für sein Überleben. Schau dir eine Blume an: Ihr Leben ist reine Spontaneität. Wenn ein Leben nur dann entscheiden würde, dass es leben möchte, wenn die Umstände um das Leben herum gut sind, dann wäre das lächerlich. Das wäre etwa so, als würde man nur dann etwas tun, wenn es einem jemand befiehlt, oder als würde man jemanden nur dann lieben, wenn diese Person es von einem verlangt. Ob ein Leben gedeiht, hängt nicht vom äußeren Umstand ab. Leben entsteht genauso auch dort, wo keine guten Lebensumstände sind. Die Natur unterliegt keiner militärischen Befehlskette.»
Während Christinas Weg weiterhin schwierig war, entwickelte Mario sich erfreulicherweise sehr schnell. Er begann mit elf Monaten, auf seinen eigenen zwei Beinchen die Welt zu erkunden, und war insgesamt ein wahrer Wonneproppen. Christina aber hatte nach wie vor mit vielen Herausforderungen zu kämpfen: Magengeschwüre, Darmverschluss, Abszesse in der Speiseröhre aufgrund der Refluxkrankheit, welche mitsamt den Mandeln herausoperiert wurden. Solche Erkrankungen warfen sie in ihrer ohnehin verzögerten Entwicklung immer wieder um Monate zurück.
Anlässlich eines der vielen Aufenthalte in der Kinderklinik begab sich ein unerklärliches Ereignis. Ich verbrachte eine ganze Woche mit Christina in der Klinik und versorgte sie Tag und Nacht. Da sich das Sondieren derart schwierig gestaltete, konnte und wollte ich dies dem Personal nicht zumuten. Eines Abends war ich todmüde und wusste, dass ich nun einfach irgendwo ein paar Stunden Schlaf am Stück benötigte. So instruierte ich die junge Nachtschwester darüber, um welche Uhrzeit, was und wie viel sie zu sondieren hätte. Mehrfach erklärte ich ihr deutlich, dass sie keinen Sondentropf anhängen dürfe, da Christina die übliche Sondennahrung nicht vertrage und große Mengen schon gar nicht. Danach legte ich mich gegen Mitternacht erschöpft in einem ruhigen Nebenraum schlafen.
Dann geschah das Ungewöhnliche: Es war gegen 04:00 Uhr morgens, und es fühlte sich deutlich so an, als ob mich jemand berührt hätte, doch ich sah niemanden im Zimmer. Naheliegend wäre jetzt gewesen, mich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen, aber in mir machte sich das klare Gefühl breit, dass Christina in Gefahr war – ein Empfinden, das ich in dieser Art zuvor noch nie erlebt hatte. Fast panikartig verließ ich den Raum und eilte umgehend in Christinas Zimmer. Was ich nun erlebte, bestätigte mir einmal mehr, dass ich mich auf meinen Instinkt, auf meine innere Führung verlassen kann.
Die Nachtschwester hatte, entgegen meinen expliziten Anweisungen, einen ganzen Liter Flüssignahrung angehängt! Dies entsprach in etwa der Menge, die Christina üblicherweise über mehrere Tage aufzunehmen vermochte – dann allerdings bloß milliliterweise und in regelmäßigen Abständen über den Tag verteilt. Das Kind lag flach auf dem Rücken in seinem Bettchen, fixiert in einem Anzug, der mit der Matratze verbunden war, so dass sie nicht aufstehen konnte. Christina war hellwach und schaute mich Hilfe suchend mit großen Augen an, weinte aber nicht. Sie rang nach Luft und hustete, und ich vernahm ein glucksendes Geräusch: Die Sondenmilch lief über den Schlauch durch die Bauchdecke direkt in den kleinen Magen. Da ihr Darm keine großen Mengen verarbeiten konnte, lief die gesamte künstliche Nahrung in die umgekehrte Richtung über die Speiseröhre wieder aus ihrem Mund und aus ihrer Nase heraus. Hätte ich sie nicht entdeckt, wäre sie womöglich in dieser Nacht erstickt, ohne dass es jemand bemerkt hätte.
Dieser Vorfall auf der Neonatologie-Station war ein schockierendes Erlebnis für mich. Dennoch lag es mir fern, ein Drama zu veranstalten. Denn ich war dem Pflegepersonal der Intensivstation nebenan noch immer zutiefst dankbar dafür, dass sie sich monatelang derart engagiert für das Überleben der Zwillinge eingesetzt hatten. Mir war klar, dass bei diesem Ereignis eine höhere Macht die Hand im Spiel hatte. Zum Glück hatte ich auf meine innere Stimme gehört.
Im Laufe der kommenden Jahre sollte es immer wieder zu ähnlichen wundersamen Begebenheiten kommen. Viele von ihnen wären womöglich in der Vergessenheit verblieben, wenn ich mich im Zuge des Schreibens dieses Buches nicht darum bemüht hätte, mich an sie zu erinnern.
Als Christina etwa dreieinhalb Jahre alt war, gaben die Ärzte die Hoffnung auf, dass das Mädchen jemals würde normal essen und trinken können. Der einjährige Mario aber wirkte wie ein Zugpferd für seine Schwester. Wenn Christina ihn genüsslich essen sah, versuchte sie, es ihm gleichzutun, doch alle ihre verzweifelten Bemühungen, auch nur ein winziges Teilchen des Essens herunterzuschlucken, scheiterten. Es war offensichtlich: Sie wollte zwar schlucken und essen, aber ihr Körper schien dazu nicht in der Lage zu sein.
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