1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Nach sechs Monaten stellte sich die Frage, welche hoch entwickelte Frühchenmilch Christina nach der Muttermilch bekommen sollte. Doch auf sämtliche Spezialnahrung reagierte sie mit massiver Neurodermitis. Es gab Tage, da bekam das Mädchen einfach nur Tee sondiert. In der Klinik riet man mir damals noch von Spender-Muttermilch ab, genauer gesagt übernahm die Klinik keine Verantwortung dafür. Denn das Verabreichen von Muttermilch war zu vergleichen mit einer Bluttransfusion, barg also gewisse Risiken. Doch ich hatte keine Wahl. Eine vertraute Bekannte von mir, die mit einem Frühgeborenen ebenfalls einige Wochen auf der Intensivstation verbracht hatte, hatte noch einiges an eingefrorener Muttermilch übrig, und damit überbrückten wir einige weitere Wochen. Dies war damals überlebenswichtig für Christina.
Am Neujahrstag 2002 war Christina etwas mehr als acht Monate alt und wog knapp 4000g. Aber statt Fortschritt folgten auch im neuen Jahr neue Probleme.
Im Alter von einem Jahr war Christina ein strahlendes, lebendiges Mädchen von 4800g, das sich allerdings gerne die Sonde aus der Nase zog, weil der Schlauch in der Nase zunehmend störend war. Zwar war ich imstande, diese selber wieder über die Nase in den Magen einzuführen, doch es wurde zunehmend mühsamer, drei- bis viermal am Tag die lebenswichtige Sonde neu zu setzen. Dieser Zustand war auf die Dauer nicht tragbar. Daher schlugen uns die Ärzte in der Kinderklinik eine sogenannte «PEG-Sonde» vor, das heißt einen künstlichen Katheter-Zugang über die Bauchdecke direkt in den Magen, der nicht mehr durch die Nase und die Speiseröhre verlaufen würde. Über dieses Schlauchsystem konnte zwar leichter Flüssignahrung zugeführt werden, doch machten uns die Ärzte auch auf die Risiken aufmerksam. Es bestand die Gefahr, dass Christina möglicherweise niemals würde normal essen und trinken können und lebenslang auf dieses künstliche System angewiesen sein würde.
Die Entscheidung für einen solchen Schritt fiel uns nicht leicht. Ich verspürte das starke Bedürfnis, zuvor noch einen weiteren Rat einzuholen, denn ich war mir nicht sicher, ob dieser Eingriff tatsächlich richtig sei. «Zufälligerweise» kam in diesen Tagen gerade eine liebe Freundin zu Besuch und gab uns die Adresse einer Astrologin, die uns möglicherweise weiterhelfen könnte. Bei solchen Empfehlungen war ich stets skeptisch gewesen. Schon seit der Geburt der Zwillinge hatte ich von allen möglichen Seiten eine Unmenge an lieb gemeinten Ratschlägen und an Adressen irgendwelcher Lebensberater und Therapeuten bekommen. Mittlerweile war ich ausreichend sensibilisiert, was die Therapeutenwahl anbelangte. Doch dieses Mal fasste ich den Entschluss, die empfohlene Astrologin aufzusuchen.
Für mich würde es der allererste Besuch bei einer Astrologin sein. Ich hatte vor, mich mit lediglich zwei Fragen an sie zu wenden: erstens, ob diese PEG-Sonde für Christina wirklich die richtige Lösung war, und zweitens, welche Art der Nahrung ich Christina sondieren sollte, wenn keine Spendermilch mehr zur Verfügung stünde. Denn jegliche Sondennahrung wurde bis zu diesem Zeitpunkt von Christinas Organismus nicht angenommen.
Im Vorfeld teilte ich der Dame Christinas Geburtsdaten mit, so dass sie bereits die astrologischen Berechnungen anstellen und Christinas Kosmogramm erstellen konnte. Einige Tage später fuhr ich dann in einer Mischung aus Skepsis und Zuversicht zu jener Astrologin am Zürichsee. Schon nach dem ersten Blickkontakt war ich positiv beeindruckt, und mein Vertrauen war geweckt. Die Astrologin schaute sich das einjährige, mit 4,8kg noch immer massiv untergewichtige Kind an und meinte dann nach kurzem Innehalten mit einem erfreuten Lächeln und mit einer sonderbar ruhigen Stimme: «Dieses Kind wird die Welt verändern.»
Aus welchem Grund diese fremde Frau eine solche Aussage machte und was genau sie damit meinte, verstand ich damals nicht. Ich maß diesen Worten auch kein besonderes Gewicht bei, und doch waren sie eindrücklich genug, dass sie mir im Hinterkopf blieben. Ich hielt die Aussage für eher symbolisch. Vielleicht würde sich Christina irgendwann einmal sozial einsetzen, etwa in der Entwicklungshilfe oder ähnlichem. Die ferne Zukunft meiner Tochter interessierte mich in jenem Moment ohnehin denkbar wenig, denn wir hatten genug aktuelle Probleme.
Insgesamt war der Besuch bei jener Astrologin im Jahre 2002 für uns alle entscheidend. Sie bestätigte einen ausgesprochenen Lebenswillen des Kindes und erwähnte, in welch gewaltiger Planetenkonstellation es geboren worden war. Sie befürwortete die fragliche Operation, und bezüglich Ernährung verwies sie mich auf die Natur. Vieles von dem, was die Astrologin außerdem noch sagte, verstand ich damals nicht. Aber meine beiden zentralen Fragen waren beantwortet: Erstens sollte Christina nun also die PEG-Sonde in ihre Bauchdecke operiert bekommen. Das Entfernen der bisherigen Nasensonde stellte für uns alle eine große Erleichterung dar. Außerdem konnten dadurch auch die ständige Reizung in der Speiseröhre sowie die Irritationen des Ringmuskels beim Mageneingang vermieden werden. Und zweitens entschied ich mich, was die Sondennahrung betraf, wie von der Astrologin empfohlen, für Naturprodukte, was die Ernährungsberater allerdings als sehr ungewöhnlich erachteten. Christina vertrug weder Schafs- noch Ziegenmilch, daher sondierten wir Tees, Fruchtsäfte, pürierte dünne Kartoffel/Gemüse-Cocktails, angereichert mit Eiern und hochwertigen Ölen. Später kamen Apfelmus und pürierte Haferschleimsuppe dazu, manchmal auch eine süße Creme, damit die Kalorienzahl ein wenig aufgewertet werden konnte. Allein die Nahrungszubereitung und das Sondieren waren tagtäglich mit einem enormen Zeitaufwand verbunden. Doch es lohnte sich, und dem Mädchen ging es in kleinen Schritten zusehends besser.
Und doch gab es auch mit dieser sorgsamen Auswahl an Nahrungsmitteln in den folgenden Jahren immer wieder Schwierigkeiten. Christina litt wohl nicht mehr an Neurodermitis, doch da normalerweise die Verdauung des Menschen im Mund beginnt – mit dem ganzen Speichelfluss und dessen Enzymen –, fehlte dieser Teil bei Christinas Nahrungsaufnahme über die Magensonde. Dies wiederum hatte eine sehr schlechte Verdauung zur Folge, was oft mit Krämpfen, Verstopfung und Erbrechen einherging. Aber im Großen und Ganzen konnte sie mit der natürlichen Ernährung gut gedeihen – ganz zum Erstaunen der begleitenden Ernährungsberater, für die eine solche Ernährungsweise neu und unkonventionell war.
Bei all diesen mannigfachen körperlichen Problemen sah man das Kind allerdings niemals weinerlich, quengelnd oder gar trotzend. Und allein dies grenzte ebenfalls an ein Wunder.
5
Christinas Kindheit
Christinas zweites Lebensjahr war geprägt von vielen kleinen gesundheitlichen Rückschlägen und zum Teil heftigen Darmproblemen. Auffallend war, dass es ihr im Winter deutlich schlechter ging als im Sommer – ebenfalls ein Phänomen, das sich erst nach Jahren aufklären sollte. In der kalten Jahreszeit häuften sich jeweils auch später noch die Infekte und andere Herausforderungen massiv.
Zu den jahrelangen Dauertherapien in Christinas Kindheit gesellten sich außerdem regelmäßige medizinische Entwicklungskontrollen. Motorisch lag das Mädchen gegenüber dem üblichen Entwicklungsstand zunächst weit zurück, doch mit 18 Monaten konnte sie endlich vollständig gehen und plauderte wie ein normales Kind. Essen und Trinken aber konnte sie trotz täglicher Bemühungen noch immer nicht selbständig. Sie wurde weiterhin rund um die Uhr mit enorm kleinen Mengen per Sonde versorgt.
Die Situation war für uns insgesamt sehr belastend und ungewiss, also nicht wirklich so, dass man gleich eine zweite Schwangerschaft herbeisehnen würde. Dennoch wollte ich mir nicht vorstellen, dass Christina als Einzelkind aufwachsen würde. Ich verfügte zwar nicht über die Erfahrung einer «normalen» Schwangerschaft, aber ich erhoffte mir eine solche. So wurde ich in dieser Zeit wieder schwanger und erlebte zu meiner großen Freude eine sehr schöne, weitestgehend unkomplizierte zweite Schwangerschaft. Im Hitzesommer 2003 legte ich satte 19kg zu, dennoch fühlte ich mich rundum wohl und joggte sogar noch bis in den sechsten Monat. Es war ein völliger Kontrast zur vorherigen Schwangerschaft, und ich war dankbar für beide Erfahrungen.
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