Stattdessen wurde er als Übersetzer gewürdigt, der den Reichtum der hebräischen Sprache erkannt und die Schrift verdeutscht und volkstümlich gemacht hatte, und nicht von ungefähr wurde Moses Mendelssohn (1729−1786), der die Tora ins Deutsche übertragen hatte, im 19. Jahrhundert als Reformator und als „Luther des Judentums“ gefeiert. 13Heinrich Heine bestärkte in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland diesen Topos; „Wie Luther das Papstthum, so stürzte Mendelssohn den Talmud.“ 14
Mendelssohns Tora-Übersetzung von 1783 kam erst 1815 auch in deutschen Lettern heraus. Mangels einer anerkannten umfassenden jüdischen Bibelübersetzung in deutscher Sprache griffen Juden im Allgemeinen auf die Luther-Bibel zurück, bis 1837 die von Leopold Zunz verantwortete Übersetzung und 1839 die Philippson-Bibel erschienen. Bemerkenswerterweise kritisierte Ludwig Philippson noch 1859 Luthers Übersetzung als „einseitig, monoton und prosaisch, wo das Original viel- und tiefsinnig und voll Schwunges, voll Zartheit und Erhabenheit, voll Abwechslung und Biegsamkeit ist“. 15
Seit Luther wird die Christenheit in Mitteleuropa nicht mehr als monolithisch begriffen. Diese Konfessionalisierung hat im 19. Jahrhundert auch die Auffächerung des Judentums in unterschiedliche Denominationen erst denkbar und möglich gemacht. Leopold Zunz (1794−1886), der Begründer der Wissenschaft des Judentums, sah Luther 1855 als den Überwinder des Mittelalters, der seiner Zeit weit voraus war und dessen Wahrheiten, insbesondere die Gedanken- und Gewissensfreiheit, in der Gegenwart überhaupt erst eingeholt werden müssten. 16Das Urteil des Zunz-Schülers Abraham Geiger fiel weit nüchterner aus: „Martin Luther hat der Menschheit keinen neuen Gedankeninhalt gebracht“, schrieb der Vordenker des liberalen Judentums 1871, doch er gestand Luther sehr wohl zu, den Geist von der priesterlichen Macht befreit und die Religion mit dem Volksleben verknüpft zu haben, so wie einst die Pharisäer den priesterlichen Sadduzäismus überwunden hätten. 17Auch für Geiger war es Luthers Bibelübersetzung, die ihn heraushob, die ihre Wurzeln aber schließlich im Judentum hatte: „Mit seiner Bibelübersetzung legte Luther das Zeugnis ab, dass er seine Erfrischung der Kirche mit den Mitteln des Judentums vollbracht“. 18Zudem trug der Reformator mittelbar zur Ausprägung der modernen Bibelwissenschaft bei: „Allein die freie Forschung der heiligen Schrift, die er zwar selbst nicht unternahm, weil er von bestimmten Glaubensvoraussetzungen ausging, wurde nun vorbereitet.“ 19
Für viele deutsche Juden war Luther zum deutschen Nationalhelden geworden, und als Rabbiner Abraham Geiger 1855 Paris besuchte, verglich er den Panthéon mit der Walhalla und beklagte, dass König Ludwig von Bayern dort ein schlechtes Totengericht gehalten hätte: „Martin Luther wurde aus der Reihe der großen deutschen Männer ausgeschieden“. 20Dem Mann, „der mit dem Hammer seines Geistes die alte Form zertrümmert, die geistliche Bevormundung beseitigt hat“, werde „seinen Platz in der Ehrenhalle des deutschen Volkes und der Menschheit auch dann noch einnehmen, wenn auch sein religiöser Standpunkt längst überschritten ist.“ 21
Die jüdischen Sympathien für Luther beschränkten sich Mitte des 19. Jahrhunderts auf bestimmte Aspekte seines Wirkens und galten dem Reformator, der die Konfessionalisierung von Religion ermöglicht hatte, dem Bibelübersetzer, dem Luther der Aufklärung, dem „deutschen“ Luther. Diese Zustimmung bezog sich aber immer nur auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die Luther anstieß, nie aber auf seine Theologie. Zu denen, die Luther priesen, gehörten insbesondere Schriftsteller und politische Denker, die aus dem jüdischen Milieu ihrer Familien ausgebrochen und wie Ludwig Börne und Heinrich Heine zum Christentum konvertiert oder wie Karl Marx bereits als Kind getauft worden waren. 22
Für Heine war Luther Wegbereiter einer bevorstehenden deutschen Revolution: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da vollbringt was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf, – der dritte Befreier!“ 23Wie ambivalent seine Haltung gegenüber Luthers Wirkung denn aber ist, wird in der Reihung von Paradoxa deutlich, mit der er den Reformator zu fassen versucht: „Er war ein kompletter Mensch, ich möchte sagen ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie nicht getrennt sind. Ihn einen Spiritualisten nennen, wäre daher eben so irrig, als nennte man ihn einen Sensualisten. Wie soll ich sagen, er hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es bei allen providentiellen Männern finden, etwas schauerlich Naives, etwas tölpelhaft Kluges, etwas erhaben Borniertes, etwas unbezwingbar Dämonisches.“ 24Heines „Ruhm dem Luther!“ unterscheidet ihn von Ludwig Börne, der Luther der Lähmung des deutschen Patriotismus zieh; für ihn war die Reformation „die Schwindsucht, an der die deutsche Freiheit starb, und Luther war ihr Totengräber.“ 25
Marx schließlich folgerte 1844: “Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt.“ 26
Erst als das Ideal des „Aufklärungsluther“ im späteren 19. Jahrhundert vom „kirchlichen Luther“ und vom „deutschen Luther“ im Sinne einer Einheit von protestantischem Christentum und Preußischem Königtum überlagert wurde, folgerte der Historiker Heinrich Graetz in seiner Volkstümlichen Geschichte der Juden (Leipzig 1889) mit Blick auf Luthers Judenschriften nunmehr voller Ablehnung: „So hatten denn die Juden an dem Reformator und Regenerator Deutschlands einen fast noch schlimmeren Feind […], jedenfalls einen schlimmeren als an den Päpsten bis zur Mitte des Jahrhunderts“. 27
Zum Reformationsgedenken von 1917 wurden in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ganz unterschiedliche Stimmen zu Luther laut. Hermann Cohen (1842−1918) pries ihn in den Neuen Jüdischen Monatsheften als einen „Schöpfer des Deutschtums“ und lobte wie zuvor schon Abraham Geiger seine Übersetzungstätigkeit: „Er hat dadurch die ursprüngliche Bestimmung der Bibel, welche das Judentum in seiner ganzen Geschichte treulich gepflegt hat, in der Christenheit zur Erfüllung gebracht“. 28Der Neu-Kantianer Cohen befand: „Auch als deutscher Staatsbürger hat der moderne Jude Martin Luther als den Urheber des modernen Staatsgedankens zu feiern und eine unvergängliche innige Dankbarkeit seinem Andenken zu weihen“. 29Mit Blick auf Luthers Bibelübersetzung, Rechtfertigungslehre und Anschauung vom Staat kam er zu dem Schluss, dass Luther, „dieser deutsche Geistesheld“, Erbe des Judentums gewesen und deshalb den Juden besonders nahe sei. 30
Dagegen übte der Wiener Talmudwissenschaftler und Historiker Samuel Krauss (1866−1948) entschieden Kritik. Er betonte in der Zeitschrift Der Jude Luthers Judenfeindschaft – „War sein Glaube tief und unermesslich, so war auch sein Hass unergründlich“ – und fragte, ob der Reformator, „wer weiß, am Ende vielleicht auch noch das Alte Testament verstoßen hätte“. Und dennoch: „Die Grundsätze, die Luther zu Beginn seiner Laufbahn in alle Welt eingeführt hat, Grundsätze der Aufklärung und der freien Entfaltung des menschlichen Geistes, darunter die Ablehnung gegen Juden gerichteten geistigen oder leiblichen Glaubenszwanges, erwiesen sich als gewaltige Faktoren der Folgezeit, die selbst durch Luthers eigene Fehler nicht mehr zu bannen waren“. 31
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