Später erfuhren wir von ihm selbst, dass er die Zange auf dem Weg durch endlose Korridore in die Freistunde irgendwo an einem Fenster habe liegen sehen. Er sei zu diesem Zeitpunkt bereits mit Möglichkeiten des Zahnziehens beschäftigt gewesen und habe sofort zugegriffen. Wahrscheinlich war, dass irgendein anderer Häftling aus einem Arbeitskommando die Zange dort hingelegt und vergessen hatte.
Damit hatte sich unsere mühevoll aufgebaute Beweismöglichkeit in Luft aufgelöst. Als wir später Prof. Taats von dieser vermaledeiten Geschichte erzählten, lachte er laut.
Hauptmann Grothe und ich reagierten sehr kleinlaut, hatten uns aber vorgenommen, bei der zu erwartenden Befragung durch den Bezirks-K-Leiter unsere Schwedenaktion zu verschweigen, da sie ja nun ohnehin für uns wertlos war.
Dank unseres ZI nahm letzten Endes doch alles noch einen guten Ausgang: Unser Häftling hatte sich in völliger Verkennung der Situation bei seinem Mitinsassen freudig darüber geäußert, dass nunmehr, wo dieser Zahn im Gebissschema fehlte, die Polizei ihm nichts mehr anhängen könne. Er war dann, nach den Aussagen des ZI und durch eine Reihe anderer Beweismittel, die wir gesammelt hatten, doch geständig. Er hatte die allein laufende Frau, die ihm weitläufig bekannt war, in der Nacht zufällig getroffen, dann vergewaltigt und erwürgt. Er wurde vom Bezirksgericht Halle zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Sachbearbeiter unnatürlicher Todesfälle / Straßenbahn nach Bad Dürrenberg
Nachdem ich 1962 in die MUK der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BdVP) Halle versetzt worden war, erläuterte mir der damalige Leiter der Morduntersuchungskommission Hauptmann Grothe die Funktionsweise der MUK und ihre Pflichten im Zusammenwirken mit den Abteilungen Kriminalpolizei der einzelnen Volkspolizei-Kreisämter (VPKA).
Damals gab es in jedem VPKA in der Abteilung Kriminalpolizei einen Sachbearbeiter für unnatürliche Todesfälle. Das war eine wirklich gute Einrichtung, denn jener Sachbearbeiter wurde immer dann tätig, wenn beispielsweise ein leichenschauender Arzt auf dem Totenschein die Todesart als ungeklärt angekreuzt hatte oder wenn aus einem Krankenhaus ein Todesfall »unter verdächtigen Umständen« gemeldet worden war. Er betrachtete auch bekannt gewordene Selbsttötungen aus kriminalpolizeilicher Sicht.
Diese Sachbearbeiter waren quasi ein Filter zwischen Gut und Böse und wichtige Leute innerhalb der Kriminalpolizei. Das Verhältnis dieser Sachbearbeiter zur Morduntersuchungskommission war wirklich von Bedeutung. Oft ergaben sich telefonische Nachfragen bei der Klärung von Sachverhalten. Diese Sachbearbeiter mussten jeden Abschlussbericht über durchgeführte Untersuchungen bei einem Todesfall an die MUK schicken. Wir übten dann die Kontrolle über die Qualität der Untersuchung aus und gaben möglicherweise Hinweise zur Nachermittlung.
Wegen der großen Entfernung zu diesen Sachbearbeitern – Quedlinburg etwa war einhundert Kilometer entfernt – hatten wir meist nur telefonische Kontakte, bei einem der eher seltenen Hilferufe fuhren wir natürlich zu ihm. Jährlich kamen mehrere hundert solcher Abschlussberichte zu uns zur Kontrolle.
Als zum Beispiel im VPKA Merseburg ein neuer Sachbearbeiter für die Untersuchung unnatürlicher Todesfälle eingesetzt wurde, bestellten wir ihn zu uns in die MUK. Das war insofern günstig, da zwischen Merseburg und Halle eine Straßenbahnverbindung bestand. Es war eigentlich keine richtige Straßenbahn. Sie fuhr zwar auf Gleisen des innerstädtischen Straßenbahnnetzes und auch mit auf dem Dach befindlichen Stromabnehmern, aber es war keine innerstädtische Bahn, sondern eine Verbindung zwischen Halle, Merseburg und Bad Dürrenberg. Ihre Waggons waren länger, kompakter, hatten größere Fensterscheiben und mit Leder überzogene, heizbare gepolsterte Sitze. Für die damalige Zeit war es ein wahrer Luxus. Diese Bahn, genannt Überlandbahn, fuhr vom Riebeckplatz in Halle mit Haltestellen weiter nach Ammendorf, Merseburg, Schkopau und Leuna und hatte den Endpunkt in Bad Dürrrenberg. Es war eine schnelle und eine günstige Verbindung zwischen den genannten Städten. Sie fuhr stündlich, von meines Wissens 4.00 Uhr früh bis abends 23.00 Uhr. Viele Beschäftigte der umliegenden Werke benutzten sie täglich.
So bestellten wir eines Tages, vermutlich 1963, den Leichensachbearbeiter von Merseburg zu uns nach Halle, wir wollten ihn persönlich kennenlernen. Dass er 1967, als ich in das MfS wechselte, mein Nachfolger werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.
So kam der Leichensachbearbeiter Siegfried Schwarz mit der Überlandbahn nach Halle. Damals ahnte auch niemand, dass er später mit der Aufklärung des Mordes an einem Knaben, dessen Leiche in einem Koffer mit Zeitungen mit ausgefüllten Kreuzworträtseln gefunden wurde, bekannt werden würde. Er ist in der Zwischenzeit auch ein erfolgreicher Autor von Büchern mit wahren Kriminalfällen: Mord nach Mittag und Der Makronenmord.
Bei uns eingetroffen, besprachen wir alles, was für seine künftigen Pflichten und für die Zusammenarbeit mit der MUK erforderlich war und wurden uns einig, nach so vielen trockenen Stunden gemeinsam nach Dienstschluss ein Bier zu trinken. Also fuhren wir abends mit der innerstädtischen Straßenbahn in ein Tanzlokal, ich glaube, es hieß »Café Rosengarten«. Wir redeten weiter über die Arbeit, über unsere Familien und debattierten über Gott und die Welt. Doch lief die Uhr wieder einmal viel zu schnell und wir kamen in Gefahr, die Betriebszeit der Straßenbahn, vor allem der Überlandbahn zu verpassen. Schwarz meinte dann: »Ich bestelle uns einen Wagen«, ging in das Büro des Geschäftsführers und verkündete nach der Rückkehr: »… in einer halben Stunde kommt der Wagen«. Wir tranken noch etwas, bezahlten und gingen vor die Tür. Vor dem Tanzlokal stand – ein Leichenwagen. Ein richtiger mit Palmzweig ausgewiesener Leichenwagen, welcher von mehreren Neugierigen umringt war. Am Auto stand ein schwarz gekleideter Mann, er hatte eine Mütze unter dem linken Arm geklemmt und Siegfried Schwarz begrüßte ihn. Dann sagte er zu mir: »Los, steig ein«. Der Fahrer öffnete die hintere Tür, ich stieg ein und los ging die Fahrt. Schwarz saß vorn beim Fahrer. Hinten war, wie es sich gehörte, ein Sarg platziert, aber keine Sitzgelegenheit. So saß ich notgedrungen auf dem Sarg und stützte mich in den Kurven mit den Händen an den Seitenwänden des Wagens ab. In der Nähe meiner Wohnung klopfte ich an die Scheibe und stieg aus. Ich war froh, so schnell und unkompliziert nach Hause zu kommen und ein Leichenwagen war auch für mich nichts Bedrohliches.
Diese »Dienstfahrt« habe ich auch bei einer »innerdienstlichen« Zusammenkunft der Offiziere der ehemaligen Morduntersuchungskommissionen aus den Bezirken der DDR zum Besten gegeben. Alle waren amüsiert. Seit vielen Jahren schon treffen wir uns auch heute noch einmal jährlich. An diesen Treffen nehmen außer uns Ex-Offizieren der MUK auch frühere Gutachter des Kriminalistischen Instituts der Volkspolizei, ehemalige Dozenten der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin, Sachbuchautoren, die unserem Beruf zugetan sind und auch Ehefrauen teil. Und natürlich auch der ehemalige Leichensachbearbeiter Schwarz mit seiner Ehefrau. Er hat noch immer Kontakt zum damaligen Fahrer des Leichenwagens. Wir laden auch aktive Gerichtsmediziner ein und besprechen dann einen bereits gerichtlich abgeurteilten Fall der Neuzeit. Dann reden wir oft bis in die frühen Morgenstunden über die Vergangenheit, unsere aktuellen Lebensumstände und auch über die Zukunft.
Mord aus Leidenschaft im Schaustellermilieu
In der von Hauptmann Grothe und mir 1963 untersuchten Tragödie sehen wir die Kraft der Liebe und das dämonische Verlangen, welches aus der verratenen Liebe reift und mit der Tötung der verlorenen Geliebten enden kann. Wie treffend sind doch die Worte in Schillers Das Lied von der Glocke:
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