Ich hatte noch eine besondere Vergünstigung, um welche mich alle beneideten: Ich war immer noch Torwart in der Handballmannschaft von Dynamo Halle und wurde des Öfteren mit dem Mannschaftsbus abgeholt und wiedergebracht. So hatte ich mehr Freizeit als die anderen Studenten. Mit dem Eintritt in die Kriminalpolizei war ich seinerzeit auch zu Dynamo Halle gewechselt.
Wenige Wochen nur vor Beendigung des Lehrganges wurde mir angeboten, in die Morduntersuchungskommission der Bezirksbehörde Halle der Deutschen Volkspolizei zu wechseln. Ich war sehr erfreut über dieses Angebot. Damals war die Arbeit in einer Morduntersuchungskommission (MUK) von hohem Ansehen begleitet und die Arbeit in der MUK die Sehnsucht vieler Kriminalisten. Natürlich wusste ich nicht, was auf mich zukäme. Aber ich hatte das Angebot, den Traum aller Kriminalisten zu verwirklichen. Selbstverständlich sagte ich zu und begann am 1. März 1962 meinen Dienst in der MUK.
Das Leben in der MUK war ungleich schwieriger als die Tätigkeit im Präsidium. Die MUK bestand damals aus dem Leiter, mir als Sachbearbeiter, einem Kriminaltechniker und einem Kraftfahrer. Uns stand ein Pkw zur Verfügung, für welchen wir monatlich 3.000 Kilometer Benzindeputat hatten. Das zwang uns oftmals irgendwo weitab von unseren Familien zu übernachten, um nicht kostbare Kilometer für die Heimfahrt zu vergeuden. Durch Ermittlungsarbeit z.B. in Zeitz oder auch in Quedlinburg waren wir oft am Rande des Limits. Dieses ließ sich aber umgehen, indem ich mit einem so genannten Fahrauftrag zum Chef Operativ der Bezirksbehörde, einem alten Kriminalisten, ging, der auf das Formular schrieb »MUK unbegrenzt«. Das Ärgerlichste aber war, dass nur der Kraftfahrer ein Telefon in der Wohnung hatte und wir oftmals eine Woche von der Familie getrennt waren, ohne uns verständigen zu können. So hatten wir auch bei Alarmen, wenn wir uns in der Wohnung befanden, keine Vorwarnzeit. Der Kraftfahrer sammelte uns einfach ein.
Meist hatten wir Totschlagsdelikte, Körperverletzungen mit Todesfolge oder auch so genannte autoerotische Unfälle, aber auch Kindestötungen unmittelbar nach der Geburt zu untersuchen. Geplante Tötungsdelikte, also echte Morde, waren selten. Aber alles war sehr zeitaufwendig. Finanziell war unser Leben auch sehr schwierig. Ich hatte knapp 700 Mark Gehalt, das Bewegungsgeld war auch knapp und wurde erst später zurückgezahlt. Aber wir waren mit Begeisterung Morduntersucher und konnten alle Delikte klären.
Ein Tötungsdelikt ist mir in besonderer Erinnerung. In Dölau, am Rande von Halle, hatte ein »Überflieger« – so nannten wir sowjetische Soldaten, welche ihr Objekt verließen, um irgendwo Alkohol zu trinken – einen deutschen Zivilisten, der am Arm seiner Freundin in der kleinen Siedlung spazieren ging, erstochen. DDR-Bürger, die das sahen, hatten einen der beiden sowjetischen Soldaten eingefangen und an einen Baum gebunden. Das war aber der falsche, wie uns die Kommandantur später erklärte. Der Täter, der schon wieder in der Kaserne war, war natürlich leicht zu ermitteln. Wir hatten alles an die Kommandantur übergeben und hatten so mit dem eigentlichen Delikt nichts mehr zu tun.
Diese Tat hat natürlich in der Bevölkerung viel Aufregung hervorgerufen, zumal das Opfer aus einer fortschrittlichen Familie kam. Die Stimmung gegen die sowjetischen Soldaten war sehr erregt, viele schrien: »Das habt ihr nun von eurer Freundschaft zu den Russen« und Ähnliches. Die Beerdigung war entsprechend politisch aufgeladen. Die Sportmannschaft und die Feuerwehr von Dölau, auch die Bevölkerung hatten für die Sargträger Spalier gebildet. Alles war sehr emotional und kurz vor der Explosion. Außer uniformierten VP-Angehörigen waren natürlich auch wir anwesend, da wir ja die Eltern und die Freundin des Opfers kannten. Glücklicherweise kam es nicht zu Ausschreitungen. Aber nur wenige Tage nach der Beisetzung erhielt ich den Befehl, bei den Eltern den Kondolenzbesuch eines Generals des sowjetischen Oberkommandos vorzubereiten. Beide Eltern und auch die Freundin des Opfers waren einverstanden und hatten mir versprochen, ihre Emotionen zu zügeln und den General nicht zu beleidigen. So fuhr ich dann mit dem General und dem Dolmetscher der Kommandantur zu den Eltern. Nach wenigen Minuten verloren die Eltern die Kontrolle. Sie wurden dem General gegenüber, der sich wortreich für das Verbrechen entschuldigte, recht bösartig, und ich war froh, dass der Dolmetscher nicht mehr übersetzte, sondern einfach schwieg. Ich brach dann den Kondolenzbesuch ab und war froh, als ich wieder im Auto saß. Der General schwieg erschüttert, ich auch.
Mehrere Wochen später erhielt ich vom K-Leiter (Leiter der Kriminalpolizei) den Auftrag, an der Gerichtsverhandlung gegen die beiden sowjetischen Soldaten teilzunehmen. Die Kommandantur hatte eingeladen. Auch die Eltern des Opfers waren eingeladen, lehnten aber eine Teilnahme ab. Der Leiter der MUK und ich fuhren also zur Kommandantur, trafen dort den uns bekannten Dolmetscher und fuhren mit ihm zur sowjetischen Kaserne.
In einem großen Saal fand die Verhandlung vor dem obersten Militärtribunal der sowjetischen Streitkräfte statt. Im Saal saßen mehre hundert Soldaten und Offiziere. Der Täter wurde zum Tode verurteilt und der andere »Überflieger« zu fünf Jahren Aufenthalt in einem Straflager. Die Urteile wurden mit lautem Beifall quittiert. Sicher sollten sie auch zur Erziehung der anwesenden Soldaten beitragen.
Wir fuhren erschüttert nach Hause und dachten beide nicht daran, dass dies noch nicht der letzte Akt in diesem bösen Delikt war. Wieder einige Monate später wurde ich zum Chef der Bezirksbehörde Halle befohlen. Der MUK-Leiter war im Urlaub. Schweigend hielt der General mehrere Seiten Papier in der Hand und gab sie mir. Es war ein handschriftliches Schreiben in kyrillischer Schrift und eine gestempelte Übersetzung in deutscher Sprache. Ich las und war zutiefst erschüttert. Die Mutter des zum Tode verurteilten sowjetischen Soldaten hatte an den Obersten Sowjet geschrieben und gebeten, das Todesurteil gegen ihren Sohn nicht zu vollstrecken. Sie bat mehrmals um das Leben ihres Sohnes und schrieb, dass durch die Vollstreckung die deutsche Mutter ihren Sohn auch nicht wiedererhalten könne. Ich sah die Tränen in den Augen des Generals, mir ging es ebenso. Wir schwiegen einige Minuten. Dann meinte der General zu mir: »Fahren Sie zu der Familie des Opfers und fragen dort nach der Meinung der Eltern und der Freundin des Erstochenen. Egal wie die Meinung der drei ist, fertigen Sie dort ein Protokoll und lassen es unterschreiben.«
Mir war nicht wohl zumute. Ich war in einer schwierigen Situation, welche ich noch nie erlebt hatte. Ich fuhr ohne Anmeldung zu den Eltern und bat sie, auch die Freundin des Opfers zu holen. Ich erklärte allen das Schreiben der russischen Mutter des zum Tode verurteilten Soldaten. Wir weinten alle.
Dann sprach die Mutter unter Tränen, dass die russische Mutter ihren Sohn auch unter Schmerzen geboren habe, ihn erzogen habe und nie gewollte habe, dass ihr Sohn einen Menschen im Frieden tötet. Und fügte unter Schluchzen und Tränen hinzu, dass die Vollstreckung des Urteils ihren Jungen auch nicht wiederbringen könne. Ich war mehrere Stunden bei der Familie. Tief erschüttert fertigte ich ein handschriftliches Protokoll, worin die deutsche Mutter den Obersten Sowjet bat, das Urteil nicht zu vollstrecken, da das ihren Sohn auch nicht wieder zum Leben erwecken könne …
Dann fuhr ich zu meinem General und wurde auch sofort vorgelassen. Schweigend las er mein Protokoll und legte es auf seinen Schreibtisch. Dann musste ich ausführlich über mein Gespräch bei der Familie berichten. Er war vom Standpunkt der deutschen Mutter tief berührt und sagte, dass er es so erhofft habe, aber auch Verständnis für einen anderen Ausgang meines Gesprächs mit der Mutter gehabt hätte. Dann wurde ich mit Dank entlassen. Ich habe nie wieder etwas von dieser traurigen Geschichte gehört.
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