Ascanio Celestini - Schwarzes Schaf

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Ascanio Celestini hat den Irren zugehört, ihren Geschichten, ihren Wahrheiten, Phantasien und Geistesblitzen. Ein Liebhaber der schwarzen Schafe.
Ins Irrenhaus kann man zufällig oder aus Versehen geraten. Ist einer schon verrückt, nur weil er mitten in der Sommersonne, wenn alle fröhlich sind, plötzlich in düstere Stimmung fällt? Wenn einer Angst hat im Dunkeln, manchmal auch am Tag? Was ist normal? Auf welch' dünnem Seil geht unsere Vernunft spazieren? – Nicola, der hier sein Leben erzählt, hat fünfunddreißig Jahre im Irrenhaus verbracht, da erlebt man einiges. Früher brachte seine Oma ihn in die Schule und der Lehrerin ein frisches Ei aus dem Hühnerstall. Nicola saß in der letzten Bank und war in der Klasse das schwarze Schaf. Später bringt die Oma ihn zu den Verrückten, aber einmal auch ans Meer … Man liest, was Nicola berichtet, über sich selbst und das Leben der anderen Insassen – zunächst mit dem Wohlwollen dessen, der vermutet, er sei kein schwarzes Schaf. Dann verschwindet diese Sicherheit. Wer ist nun verrückt, die Bewohner des Irrenhauses oder die anderen, die draußen leben? Nicola in der Anstalt oder das Mädchen an der Supermarktkasse? Beide werden andauernd überwacht und tun immer dasselbe. Aber am Ende der Geschichte dürfen wir mit Nicola befreit durchatmen und – lachen.

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Die italienische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel La Pecora Nera bei Giulio Einaudi editore in Turin.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2006 Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino

© 2011 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Str. 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Photographie von Ascanio Celestini © Fabio Zayed.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4294 8

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3238 3

www.wagenbach.de

Anfang

Ich bin dieses Jahr gestorben.

Alle wollten dieses Jahr sterben.

Wer bis heute gelebt hat, hat alles gesehen, was man sehen konnte.

Er hat Hunde im Weltall gesehen, Menschen auf dem Mond und einen Roboter mit Rädern auf dem Mars. Er hat New York, London und Madrid in die Luft fliegen sehen, und nicht mehr nur Kabul und Bagdad. Er hat das Kinderüberraschungsei gesehen, das aus jedem Tag des Jahres ein ewiges Ostern macht. Er hat Milch in Pulverform gesehen, Wein im Tetrapak und Erdbeeren mit Essig.

Alle wollten dieses Jahr sterben, denn vom nächsten an wird es nichts Neues mehr zu sehen geben. Die Welt wird sich wiederholen, wie die Zweitausstrahlung einer schon gelaufenen Sendung. Die Zukunft wird die Zusammenfassung der vorangegangenen Folgen sein. Von morgen an wird selbst Völkermord langweilig.

Erster Teil

Ich erinnere mich an mein vergangenes Leben

Eins

Ich bin in den sechziger Jahren geboren.

In den fabelhaften Sechzigern.

Alle wollten in den sechziger Jahren geboren werden, aber leider wurden manche vorher geboren. Und sie schämen sich, in den fünfziger Jahren geboren zu sein, mit den ganzen armen Hungerleidern, die in den Läden nichts zu kaufen hatten und die wir heute noch in ihren Armeleutekleidern durch die Schwarz-Weiß-Filme der Privatsender laufen sehen. Selbst die Reichen hatten damals Sachen an, wie sie sich heute die Emigranten aus Albanien kaufen, die im Schlauchboot nach Italien kommen. Damals hatten alle Angst vor dem Krieg, der gerade erst vorbei war. Damals gab es nur einen im ganzen Haus, der einen Fernseher hatte, und alle waren ständig bei ihm und verpesteten ihm die gute Stube mit ihrem Neid.

Alle wollten in den sechziger Jahren geboren werden, aber manche haben es nicht rechtzeitig geschafft und wurden später geboren, und sie fuchst es heute noch, zu spät gekommen zu sein. Sie wurden in den bleiernen Jahren geboren, wo die Leute auf der Straße starben wie mitten im Krieg.

Nur in den sechziger Jahren war der Krieg weit genug weg, dass niemand an ihn dachte.

Alle wollten in den sechziger Jahren geboren werden, aber man kann im Leben alles ändern, außer dem Geburtsdatum.

In den fünfziger Jahren taten die Leute nichts Spannendes.

Das einzig Gute an den fünfziger Jahren war die Gewissheit, dass bald die sechziger Jahre anfangen würden.

Dann kam das Jahr 1959 und alle bissen noch ein paar Tage die Zähne zusammen, denn es fehlte nicht mehr viel bis zum Ende dieser faden Jahre. Im Sommer 1959 fuhren die Leute nicht mal ans Meer. Sie schämten sich für die ollen, albernen Badesachen, die sie anhatten. Und wer doch ans Meer fuhr, badete im Meerwasser, das nach nichts schmeckte. Es schmeckte nicht nach Salz, es hatte einfach nicht diesen Geschmack, den das Meer in den sechziger Jahren haben würde. Es war ein schales Wasser, fade wie die gesamten fünfziger Jahre.

An Weihnachten 1959 waren die Menschen ganz high, so neugierig waren sie auf die fabelhaften Sechziger, die bald anfangen würden, und sie vergaßen darüber sogar das Feiern. Sie kauften keinen Panettone und keinen Pandoro, keinen Sekt und keinen Torrone. Sie gingen früh ins Bett und hatten nicht einmal ihre Krippen aufgebaut. Ein paar hatten einen Stall hingestellt mit etwas Moos, aber von den Figuren waren nur die Heiligen Drei Könige da, denn sie waren auf der Reise und würden zusammen mit dem neuen Jahr ankommen. Die Heiligen Drei Könige der 1959er-Krippe waren schon die Heiligen Drei Könige der sechziger Jahre. Doch das Jesuskind hat niemand dazugelegt. In dem Jahr hatte das Jesuskind keine Lust, geboren zu werden, dafür war es an Weihnachten 1960 so froh, dass es gleich dreimal auf die Welt kam.

Dann kam der 31. Dezember und rund um den Globus warteten die Menschen auf den Beginn der fabelhaften Sechziger. Kaum hatte es Mitternacht geschlagen, hagelte es Wunder über Wunder. Einem Kahlkopf wuchsen echte Hippie-Haare. Alte Frauen mit Dutt und ollen Ciocie an den Füßen hatten plötzlich blonde Marilyn-Monroe-Locken und unter den schwieligen Sohlen wucherten ihnen Pfennigabsätze. Selbst die Mädchen mit dickem Hintern, die sich immer scheu an den Mauern entlanggedrückt hatten, weil sie so einen ausufernden Hintern hatten wie die Hilfsarbeiterinnen auf den Reisfeldern der fünfziger Jahre … selbst die bekamen einen perfekten Hintern, schön verpackt in den Miniröcken der sechziger Jahre. Und an den Beinen hatten sie keine Haare mehr. Nichts, nicht das kleinste Pünktchen von der Rasierklinge zu sehen. Sie hatten glatte, total perfekte Beine.

Am 31. Dezember 1959 warteten alle auf den Beginn der fabelhaften Sechziger.

Alle außer meiner Großmutter.

Meine Großmutter legte sich an dem Abend wie immer um acht ins Bett.

Meine Großmutter hasste die sechziger Jahre. Sie hasste auch die fünfziger und die vierziger Jahre. Sie hatte den Krieg und den Faschismus gehasst, die Deutschen und die Amerikaner. Das Einzige, was sie nicht hasste, waren ihre Hühner.

Meine Großmutter war wie eine alte Frau angezogen, Omakittel und Stinkeatem. Und wenn sie rülpste, rochen ihre Rülpser nicht etwa nach Coca-Cola und Pepsi-Cola . Ihre Rülpser rochen nach frischem Hühnerei. Sie lief immer barfuß herum, sogar im Hühnerhaus. Sie sang nicht die Lieder der sechziger Jahre, sie sprach mit der Henne und die reckte ihren Hals. Meine Großmutter hielt ihr eine Hand unter den Hintern und die Henne ließ das Ei fallen. Meine Großmutter bohrte mit dem langen Nagel von ihrem kleinen Finger ein Loch in das Ei und trank es. Sie sagte »das ist frisch, das Ei. Es riecht noch nach Hühnerarsch.«

In den sechziger Jahren brachte mich meine Großmutter jeden Morgen zur Schule, aber montags zog sie die festen Strümpfe aus der Apotheke an und ihre Schuhe. Montags brachte sie mich bis zur Klasse. Ich ging in die letzte Reihe und sie ging zur Lehrerin und fragte sie »wie macht er sich denn, unser Kleiner?« Und die Lehrerin antwortete »er macht sich nicht gut, unser Kleiner. Ich habe ihn in die letzte Reihe gesetzt, damit er nicht stört. Ich habe ihn allein gesetzt, denn sonst verdirbt er mir noch die anderen. Er kommt nur zur Schule, um die Bank zu wärmen. Er ist schwach im Rechnen. Er ist schwach in Erdkunde. Er ist schwach im Kopf. Er ist der Schlechteste in der ganzen Klasse. Er ist das schwarze Schaf. Ich glaube, ich werde ihn dieses Jahr nicht versetzen, denn wenn er das Jahr wiederholt, lernt er vielleicht wenigstens irgendwas.« Und meine Großmutter zog ein frisches Ei aus ihrer Schürze, bohrte mit dem langen Nagel von ihrem kleinen Finger ein Loch hinein und reichte es der Frau Lehrerin. Die trank und meine Großmutter sagte »trinken Sie nur, Frau Lehrerin, das ist frisch, das Ei. Es riecht noch nach Hühnerarsch.« Und die Klassenkameraden lachten, weil meine Großmutter wie eine Oma angezogen war. Sie lachten, weil sie Arsch sagte. Auch wenn es nur ein Hühnerarsch war … sie lachten trotzdem.

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