»Ätsch«, sagte sie abends zu der kleinen Schwester, »warum bist du noch so klein. Nun darfst du noch nicht mit zu der Ritterburg. Als ich so klein war wie du, durfte ich auch nicht mit. – Siehst du, warum bist du so klein!« –
Der Sonntag war voller Sonnenschein. Seit dem frühen Morgen fragten die Kinder, ob man denn nicht bald abführe.
»Haltet Ruhe, ihr Kinder«, schalt der Förster, der schon nervös geworden war, da die beiden Mädchen unablässig die gleiche Frage stellten. »Der Wagen fährt um zwölf Uhr dreißig Minuten von dem Niepelschen Gute ab. Ihr werdet kurz nach eins abgeholt, eher nicht.«
Pucki stand vor der Uhr und sagte seufzend: »Kannst du dich nicht ein bisschen schneller drehen, alte Uhr?«
Das Mittagessen wurde heute schon um halb zwölf Uhr eingenommen. Die Kinder vermochten vor lauter Aufregung kaum etwas zu genießen. Roses Augen glänzten wie im Fieber. Sie konnte sich einen solchen Ausflug nicht verstellen. Was würde sie heute Seltsames und Wunderbares erleben!
Die Flasche mit dem Himbeersaft wurde von Pucki wie ein Schatz gehütet. Sie wusste, dass die Mutti an jedem Morgen beim Aufräumen der Zimmer half. Wenn sie die Flasche sah, war die Überraschung vorbei. Darum trug Pucki die kostbare Flasche sogleich nach dem Aufstehen in den Hühnerstall und schob sie ins Stroh.
Von Zeit zu Zeit lief sie in den Stall, um nachzusehen, ob keiner die Flasche entfernt hätte.
»Jetzt wollen wir die Sachen, die wir mitnehmen, einpacken«, sagte die Mutter.
»Nimmst du auch was mit, Mutti?«
»Selbstverständlich, wir sind doch beinahe zwanzig Personen.«
»Oh, ich habe auch – – nein, nein, Mutti, ich verrate nichts.«
Frau Sandler lächelte still vor sich hin. Sie wusste ja genau, was ihr Töchterchen für den heutigen Ausflug mitnahm, doch sie wollte ihr die Freude an dem Geheimnis nicht verderben.
Die Kinder umstanden die Mutter, die in einen großen Henkelkorb allerlei einpackte. Ein Tischtuch wurde auch hineingetan.
»Wir decken auf dem Waldboden unseren Tisch und setzen uns daran.«
»Wir setzen uns auf Baumstümpfe, Mutti.«
»Mitten im Walde?« forschte Rose. »Ach, das wird herrlich!«
Endlich war es so weit. Draußen stand der Kastenwagen mit dem weißen Pferdchen. Pucki und Rose kletterten, ehe die Mutter kam, hinauf und riefen abwechselnd nach der noch beschäftigten Försterin.
»Mutti, komm doch schnell, sonst fährt der Leiterwagen weg! – Mutti, Mutti, so komm doch!«
»Wo hast du denn die Flasche?« fragte Rose.
»Oh – –!«
Pucki sprang vom Wagen und lag im nächsten Augenblick der Länge nach auf der Nase. Aber tapfer verbiss sie den Schmerz. Sie hatte sich die Nase ein wenig aufgeschlagen. Einige Blutstropfen wurden sichtbar.
Im Haus begegnete ihr die Mutter.
»Was ist denn geschehen? Das ist ja ein netter Anfang, Pucki. Komm schnell, ich will dir das Gesicht abwaschen!«
»Nein, nein, sonst fährt der Leiterwagen weg!«
»Er wartet, bis wir da sind. Also komm, zuerst das Gesicht abwaschen!«
Und so geschah es.
»So, Pucki, nun geh hinaus und steige in den Wagen, ich bin fertig.«
Aber Pucki lief davon, hin zum Hühnerstall, übersah in ihrer Eile die Schwelle und lag erneut auf der Erde. Das Kleidchen wies einige bedenkliche Flecke auf, denn wo Hühner sind, ist es nicht überall sauber.
Voller Schreck sah Pucki auf das beschmutzte Röckchen.
»Nun fährt der Leiterwagen bestimmt weg!«
Die Flasche wurde hervorgezogen, dann ging es in schnellem Lauf zurück durch das Haus und hin zum Wagen. Glücklicherweise war die Mutti noch nicht da.
»Ich hab' inzwischen deinen Schulranzen geholt«, sagte Rose, die auch vom Wagen gestiegen war. »Wir stecken die Flasche hinein, dann sieht sie keiner.«
Rose hielt Pucki die geöffnete Büchermappe hin, in der noch die Tafel und das Lesebuch steckten. Sorgsam legten die Kinder die Flasche hinein.
»Du bist ja voller Schmutz, Pucki.«
»Ich zieh' die Decke 'rauf.«
In dem kleinen Wagen lag stets eine Decke, die Pucki bis an den Hals hinaufzog. Die hilfsbereite Rose hockte sich neben sie und hielt die Decke mit fest. Frau Sandler wunderte sich über die Kinder, die so steif da saßen; ließ sie jedoch gewähren.
Nun ging es los. Bald war das Niepelsche Gut erreicht. Vor dem Hause stand der große Leiterwagen, über und über mit frischem Grün geschmückt. Sogar die beiden Pferde, die vor den Wagen gespannt waren, hatten am Geschirr grüne Büschel.
»Fahren wir mit dem Wagen?« fragte Rose, und ihre Stimme zitterte vor Aufregung.
Die Ankommenden wurden von den bereits anwesenden Kindern mit lautem Hallo empfangen. Sie schwenkten die Lampions, die sie an langen Stöcken trugen. Gutsbesitzer Niepel hatte die Lampions gestiftet, und auch für Pucki und Rose waren solche bereit.
»Kind, wie siehst du denn aus?« rief Frau Sandler entsetzt, als sie ihr Töchterchen sah. »So schmutzig willst du nach der Ruine fahren?«
»Lassen Sie sie nur«, sagte Herr Niepel lachend. »Wenn die Kinder wieder heimkommen, werden sie alle so aussehen. Ich kenne das. Auf einem Ausfluge erlebt man mancherlei.«
Pucki wurde, so gut es ging, gesäubert, dann hieß es einsteigen, zumal auch aus der Oberförsterei der Wagen mit der Oberförsterin und den fünf Mädchen eingetroffen war.
»Kommt der große Claus nicht mit?« fragte Pucki ein wenig enttäuscht.
»Der Onkel kommt mit den beiden Jungen später nach.«
»Na, dann ist's gut.«
»Jetzt einsteigen«, rief Niepel. »Hallo, nicht alle auf einmal, immer hübsch einer nach dem anderen. – Paul, willst du die Bretter wohl in Ruhe lassen! Setz dich hin – nicht ins Stroh! – Dora, was machst du denn wieder für Dummheiten! – Grete, geh von den Pferden weg.«
Gutsbesitzer Niepel schien zehn Augen im Kopfe zu haben; die sechzehn Kinder quirlten durcheinander, schrien und lärmten und sprangen vor Freude wieder vom Wagen herunter, bis lautes Weinen vernehmbar wurde.
»Er hat meinen Lampion entzwei gemacht!«
»Ich habe noch andere mit«, beruhigte Frau Niepel. »Weine nicht, steige lieber ein.«
Auf dem Wagen gab es noch eine kleine Balgerei, weil die Paula durchaus neben der Erna und Grete neben Marie sitzen wollte. Fritz zerrte einfach ein kleines Mädchen, das neben Pucki saß, von dem Sitz herunter. Es fiel ins Stroh und begann zu weinen. Die drei mitfühlenden Mütter hatten Mühe, Ordnung auf dem Leiterwagen zu schaffen. Fräulein Irma, das Kinderfräulein, machte ein verzweifeltes Gesicht, denn Lenchen rief nach ihrem Lampion, der schon wieder auf der Erde lag. Olga hatte ihren Mantel im Flur liegen lassen, und was Paul anbetraf, so stellte es sich heraus, dass er kein Taschentuch bei sich hatte. Als Fräulein Irma wohl zwölfmal vom Wagen gestiegen war, um immer wieder etwas zu holen, schlug der Gutsbesitzer energisch in die Hände.
»Jetzt aber Ruhe! – Wer noch schreit oder lärmt, darf nicht mitfahren. Die Pferde ziehen nicht eher an, als bis Ruhe herrscht.«
»Das glaube ich nicht«, flüsterte Pucki Fritz ins Ohr, »die Pferde laufen auch, wenn wir Lärm machen.«
Endlich war es still geworden. Unter dem Gesang eines lustigen Liedes setzte der Leiterwagen sich in Bewegung.
»Siehst du, Onkel«, rief Pucki mit lauter Stimme, »die Pferdchen laufen doch!« Abschied nehmend winkte sie dem lieben Onkel Niepel zu, der sich die Schweißtropfen von der Stirn wischte und froh war, dass die Geschichte endlich in Gang gekommen war.
Man fuhr durch den herrlichen grünen Wald. Ohrenbetäubender Lärm herrschte auf dem Leiterwagen, denn sechzehn Kinder redeten gleichzeitig. Sie hatten viel zu bewundern und zu fragen. Mitunter war es geradezu rührend, die Freude der Kleinen, denen ein solcher Ausflug etwas vollkommen Ungewohntes war, anzusehen. Am schönsten aber erschien es allen, wenn der Wagen recht schüttelte. Dann rutschten die Kinder wie auf Kommando von ihren Sitzen herab und lagen im dicken Stroh, das Gutsbesitzer Niepel vorsorglich hatte in den Wagen legen lassen.
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