Die Lehrerin bemühte sich erneut, durch ihre Erzählung vom lieben Gott die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen. Sie sprach von Gottes Güte, von seiner Weisheit und dass er jede Unart sähe und auf jedes Kind aufpasse.
»Wenn ihr in den finsteren Wald geht, braucht ihr euch nicht zu fürchten, weil immer jemand da ist, der auf euch aufpasst. – Nun, wer weiß mir diese Frage zu beantworten: Wer ist auch im finstersten Walde?«
»Mein Vati!« jubelte Pucki, »der geht immer mit der Flinte durch den Wald.«
»Aber der liebe Gott ist auch da.«
»Und der Schutzengel, der läuft immer neben mir her, Fräulein Caspari!«
»Jawohl, Pucki, du hast recht.«
Wieder wollte sie anfangen, von dem Vater zu erzählen, von den Holzfällern, vom Eichkätzchen und den Bäumen, aber sie wurde auch jetzt wieder zur Ordnung gerufen und musste still sein.
»Ich wiederhole noch einmal, Pucki, wenn du etwas fragen willst, hebst du den Finger, dann werde ich dir stets Antwort geben.«
Schon fuhr das Fingerchen wieder in die Höhe.
»Was möchtest du wissen?«
»Ob wir nicht bald nach Hause gehen können?«
»Gefällt es dir nicht in der Schule? Willst du ein dummes Mädchen bleiben und nichts lernen?«
»O nein, Fräulein Caspari, aber vielleicht steht die Mutti heute wieder mit 'ner Tüte draußen.«
»Das gibt es nur am ersten Schultage.«
»Es haben aber so viele Kinder keine Tüte bekommen. Ich habe meine Tüte der Thusnelda geschenkt, und nun soll die Thusnelda zu uns kommen und was Schönes zu essen haben.«
»Ich habe auch keine Tüte bekommen«, rief einer der Knaben.
»Dann komm nur auch zu uns, Mutti schenkt dir was.«
Es meldeten sich noch verschiedene Kinder, die ebenfalls wehmütig davon berichteten, dass sie am ersten Schultage leer ausgegangen waren.
»Hat eure Mutti auch kein Geld für eine Tüte?«
»Nein«, klang es im Chore zurück.
»O je, dann kommt nur heute nachmittag alle in die Försterei. Meine Mutti hat Kuchen und viel Milch, und in einem Napf, in der einen Stube, steht auch Schokolade. Mutti hat gesagt, kein Kindchen darf Hunger haben. Ihr könnt alle zu uns kommen, wir haben soooo viel zu essen!«
»Ich habe immer Hunger«, rief ein kleiner kecker Bursche. »Ich komm' und esse immerfort Schokolade bei dir!«
»Nun ja, dann komm nur«, sagte Pucki treuherzig, »und wenn du nicht allein gehen darfst, dann bring die große Schwester mit. Das hat die Mutti auch gesagt.«
Der Lärm und die Begeisterung in der achten Klasse wurden immer größer. Mehrfach klatschte die Lehrerin in die Hände. Da sagte Pucki strahlend:
»Gelt, nun freust du dich, Fräulein Caspari, dass alle Kinder keinen Hunger mehr zu haben brauchen?«
»Du darfst doch nicht alle Kinder zum Kuchenessen einladen. Was wird denn deine Mutter sagen, wenn heute nachmittag so viele Kinder ankommen?«
Das Försterskind fuchtelte begeistert mit beiden Ärmchen um sich. »Sie sollen alle kommen, das hat die Mutti gesagt.«
Schließlich gelang es der Lehrerin die Ruhe wieder herzustellen. Aufmerksamkeit herrschte jedoch nicht mehr, denn einer tuschelte es dem anderen zu, dass man heute nachmittag im Forsthause Birkenhain Schokolade bekäme und Kuchen essen dürfe.
»Soll ich meine Großmutter auch mitbringen?« fragte eines der kleinen Mädchen.
»Das weiß ich nicht. – Wenn sie kommen will, soll sie ruhig mitkommen.«
Schließlich waren die beiden Stunden des zweiten Schultages vorüber. Doch diesmal trennten die Kinder sich nicht so rasch wie gestern. Wohl waren verschiedene Mütter vor der Schule, aber keine von ihnen trug eine Tüte. Frau Sandler war nicht gekommen, nur Minna stand draußen, um Pucki abzuholen. Da gerade die anderen Klassen Pause hatten, liefen verschiedene der Abc-Schützen zu ihren Geschwistern, um ihnen die freudige Botschaft zu übermitteln, dass man heute nachmittag im Forsthause sein würde, um Schokolade und Kuchen zu essen.
Ein etwa neunjähriger Knabe stellte sich keck vor Pucki hin und sagte: »Ich habe auch keine Tüte bekommen, ich komme mit!«
»Komm nur«, meinte Pucki, »unsere Kuh gibt immer wieder neue Milch, man braucht sie nur zu melken.«
»Was redest du denn da, Pucki?« fragte Minna.
»Komm fix nach Hause, Minna, ich muss der Mutti erzählen, was ich ihr für eine große Freude mache. Die Thusnelda braucht nicht mehr zu hungern und die anderen auch nicht.«
Frau Sandler ahnte nicht, was ihr für heute nachmittag bevorstand. Überglücklich erzählte Pucki von all den Kindern, die heute nachmittag herauskommen würden, weil sie Hunger hätten.
»Mutti, wir geben ihnen gute Milch und ein bisschen Kuchen.«
»Wollen sie bestimmt herauskommen?«
»O ja, sie haben es gesagt. Die Thusnelda bringt auch die große Schwester mit.«
»Nun, auf ein Glas Milch soll es uns nicht ankommen, Pucki.«
Die Einladung der kleinen Försterstochter wurde von vielen Eltern missverstanden. Es gab zahlreiche arme Familien in Rahnsburg, die das Forsthaus Birkenhain und Sandlers kannten. Manche Väter waren in dem Forst beschäftigt, man wusste auch, dass des öfters Krüge mit Milch in den Wald gebracht worden waren, wenn es galt, den erhitzten und müden Männern eine Erfrischung zu reichen. Es erschien daher diesen Eltern gar nicht verwunderlich, dass Pucki einige ihrer Mitschüler für heute eingeladen hatte. Selbstverständlich konnten die Sechsjährigen nicht allein hinausgehen. So schlossen sich größere Geschwister an.
Die ersten Kinder, die kamen, blieben ein wenig scheu am Gartenzaun stehen, bis ein kecker Bube energisch rief:
»Wir sind da, wir wollen Kuchen und Schokolade!«
Förster Sandler und dessen Frau traten aus dem Hause und blickten voller Erstaunen die sieben Kinder an, die wartend draußen standen. Einige von ihnen kannte er, es waren Söhne und Töchter seiner Holzfäller, die nicht gerade in guten Verhältnissen lebten.
»Dann kommt mal herein in den Garten«, sagte er gutmütig.
Noch hatten diese Kinder nicht Platz gefunden, als eine neue Schar herangezogen kam, unter ihnen Thusnelda Reichert mit ihren vier Geschwistern.
»Was bedeutet denn das?« fragte bestürzt die Försterin. Schon stand Pucki vor der Mutter, hüpfte von einem Fuß auf den anderen und lachte herzlich.
»Mutti, heute hast du viel mehr Besuch als an deinem Geburtstage. Oh, wirst du dich freuen. Ich glaube ganz hinten kommen noch welche!«
»Hast du dir alle diese Kinder eingeladen?«
»Ja, Mutti, wie du es gewollt hast, damit keiner hungert. Ich habe gesagt, sie sollen alle kommen, du gibst ihnen schon was!«
»Aber Pucki, woher soll ich denn soviel Milch und Kuchen nehmen?«
»Hab keine Angst, Mutti, wir lassen die Minna noch einmal in den Kuhstall gehen, dann ist wieder ein großer Topf mit Milch da.«
Es stellten sich sogar einige Mütter ein, die ihren sechsjährigen Kindern nach dem Forsthause gefolgt waren, um gleich bei der Begrüßung Förster Sandler herzlichen Dank für die Einladung auszusprechen. Weder Sandler noch seine Frau wussten Rat. Die Schar war auf etwa zwanzig Köpfe angewachsen; kaum fanden alle im Garten Platz, um sich niedersetzen zu können. Die meisten warteten artig und bescheiden auf die Genüsse, die kommen sollten; es gab aber auch solche darunter, die nach Kuchen riefen und an einem Stück nicht genug hatten.
Minna stand in der Küche und zankte über Pucki, die in ihrer Gutmütigkeit und Unwissenheit so viele Gäste herbestellt hatte. Ununterbrochen buk sie Waffeln, doch es ging nicht so schnell, wie es eigentlich hätte gehen müssen. Wenn Frau Sandler wieder einen Teller hinaustrug, so streckten sich viele kleine Hände nach dem duftenden Gebäck aus.
Pucki stand an einem Baume und schaute mit leuchtenden Augen auf die schmausende Schar. Sie, die sonst so gern knusprige Waffeln ass, dachte heute nicht an sich. Sie glaubte, dass alle diese Kinder fürchterlichen Hunger hätten und noch niemals so gute Waffeln zu essen bekommen hätten. Das kleine Herz war übervoll von Glück, wenn sie sah, wie gut es allen schmeckte. Dort war ein kleiner, blasser Junge, der sich den Mund so voll stopfte, dass er kaum atmen konnte; dort drüben, das kleine Mädchen mit dem verbundenen Auge, leckte soeben den Zucker von den Fingerchen und sah sehr glücklich aus.
Читать дальше