»Genau. Das sehe ich dann schon.« Donovan wirkte einen Hauch entspannter. »Das sollte erst mal reichen. Wir können später noch mehr vereinbaren, wenn es notwendig sein sollte.«
Ich war gerührt, dass er sich das überlegt hatte und sich von sich aus um mich sorgte. Aber wir kannten uns immer noch nicht gut genug, dass ich ihn einfach so aus Leibeskräften hätte drücken können. Schade. Nun ja, das würde schon noch kommen.
»Einverstanden. Sollen wir mal unseren möglicherweise völlig unschuldigen Klienten besuchen gehen?«
Chen Li sah nicht gut aus. Kein Wunder – der arme Kerl war zweimal angeschossen worden, einmal in den Arm und einmal in die Lunge. Er lag hochgestützt im Krankenhausbett, trug Verbände und eine Sauerstoffmaske über dem Mund. Asiatische Männer wirkten oft jünger, als sie wirklich waren, aber er sah aus wie ein Teenager und nicht wie der Zwanzigjährige, der er laut Akte war. Wahrscheinlich trugen seine kurz geschorenen Haare zu diesem Eindruck bei. Er blickte auf, als ich an die Tür klopfte. Unter seinen mandelförmigen Augen lagen dunkle Schatten.
»Jonathan Bane von der Psy Consulting Agency«, stellte ich mich vor. »Und das ist Donovan Havili, mein Partner.«
»Sehr erfreut«, erwiderte er mit leichtem chinesischen Akzent. Seine Worte waren wegen der Sauerstoffmaske etwas undeutlich. »Kommen Sie bitte herein.«
Das tat ich, hielt mich aber in sicherem Abstand von der rechten Seite des Raums, an der sich die ganzen Apparate und auch das Bett befanden. Ich versuchte, in Wandnähe zu bleiben, um den elektronischen Geräten nicht zu nahe zu kommen. Donovan, der meine Vorsicht bemerkte, schob sich zwischen mich und das Equipment. Das entspannte mich etwas, und ich nahm in einem der Besucherstühle Platz. Wenn Chen es merkwürdig fand, dass ich im Haus eine Sonnenbrille trug, erwähnte er es nicht, und er starrte mich zum Glück auch nicht komisch an. Die meisten Leute hätten mich danach gefragt.
»Meine Aussage.« Chen zeigte auf ein Dokument, das er auf seinem Laptop aufgerufen hatte. »An wen soll ich sie schicken?«
»Am besten an mich«, sagte Donovan lächelnd. »Zeigen Sie mal her, ich tippe Ihnen hier unten meine E-Mail-Adresse rein.«
»Ah, vielen Dank.«
Ich sah aus dem Augenwinkel die Länge des Dokuments. Offen gestanden war ich beeindruckt, dass Chen es geschafft hatte, mit nur einer Hand drei volle Seiten zu schreiben. Das ließ auf Frustration oder Langeweile schließen, vielleicht auch auf beides.
»Ich weiß, Sie haben das alles aufgeschrieben, und ich werde es auch sorgfältig lesen. Können Sie uns trotzdem noch einmal in eigenen Worten erzählen, was passiert ist?«
»Überhaupt kein Problem«, sagte er entschlossen. Ungeduldig zog er die Sauerstoffmaske herunter und klemmte sie unters Kinn, um besser sprechen zu können. Seine nächsten Worte waren gleich viel deutlicher. »Haben Sie in der Zeitung von der Geschichte mit Alice Thompson gelesen?«
Die Zeitung war eines der wenigen Medien, mit denen ich mich auch ohne Elektronik auf dem Laufenden halten konnte, also nickte ich sofort. »Ja. Sie soll angeblich Erpresserbriefe erhalten haben, aber es kam nie jemand zu den Treffpunkten, um das Geld abzuholen. Die Polizei geht davon aus, dass ihr jemand einen Streich gespielt hat, richtig?«
»Genau. Wir dachten alle, dass es ein Streich war. Ms Thompson und ich studieren am gleichen College, wenn auch nicht die gleichen Fächer. Inzwischen wissen alle am College Bescheid. Das mit den Briefen fing vor ein paar Monaten an, im letzten Semester. Alle hielten es für einen Streich. Aber sie bekam immer weiter Briefe und fragte sich, wer dahintersteckte. Letzte Woche sprach sie mich vor der Bibliothek an, sie wollte etwas mit mir besprechen. Ich dachte mir nichts Böses dabei und sagte, na klar, also haben wir uns auf die Treppe vor der Bibliothek gesetzt. Sie fragte, ob ich von den Briefen gehört hätte, und ich sagte Ja, aber dass ich nicht weiß, wer sie geschickt hat. Sie hat noch weitere Fragen gestellt, aber ich wusste nichts darüber. Ich sagte ihr, ich hoffe, dass die Person bald gefasst wird, damit sie keinen Ärger mehr damit hat. Sie hat gelächelt und sich bedankt. Ich dachte, wir sind fertig, also stand ich auf, habe mich verbeugt und wollte gehen. Als ich aufsah, hatte sie eine Pistole in der Hand.«
Donovan gab einen Laut von sich, eine Mischung aus einem heruntergeschluckten Fluch und einem Ausruf der Überraschung. Auf die Verletzungen deutend fragte er: »Moment mal, Sie haben noch nicht mal gestritten? Sie hat einfach die Waffe gezogen und auf Sie geschossen?«
»Sie hat mich zweimal getroffen, wie Sie sehen«, bestätigte Chen düster. »Als ich die Pistole erkannte, bekam ich Angst. Ich bin weggerannt. Sie hat fünfmal geschossen. Um mich herum haben alle geschrien, und manche sind uns nachgerannt. Ich bin vom Campus weggelaufen, in eine Autowerkstatt, und habe mich in einem Auto versteckt. Sie wurde vom Campus-Sicherheitsdienst aufgegriffen, sie haben ihr die Waffe abgenommen und einen Krankenwagen für mich gerufen. Ich weiß nicht, was dann passiert ist, aber vor drei Tagen kam die Polizei hierher. Sie haben mich beschuldigt, die Briefe geschrieben und sie bedroht zu haben. Aber das habe ich nicht!« Chen musste husten, zog eine Grimasse und setzte dann die Sauerstoffmaske wieder auf, wie es ihm seine Lunge zweifellos nahelegte.
Die ganze Geschichte verursachte mir Kopfschmerzen. Ich konnte seiner Aura ansehen, dass er die volle Wahrheit sprach und dass er ein ehrlicher Mensch war. Er hatte nichts falsch gemacht, und schon gar nichts, was es gerechtfertigt hätte, auf ihn zu schießen. »Ich glaube Ihnen.«
Chen sah mich mit großer Erleichterung an. »Niemand sonst glaubt mir. Sie denken, dass ich etwas getan habe, das ihr Angst eingejagt hat, und dass sie darum geschossen hat. Ich habe Ihre Agentur angeschrieben, weil ich hoffe, dass ein Medium sehen kann, dass ich nicht lüge.«
»Sie sagen die Wahrheit und haben sich nichts vorzuwerfen, das sehe ich«, beruhigte ich ihn. »Sie müssen mich nicht überzeugen. Ich habe jetzt verstanden, was passiert ist. Was können wir denn für Sie tun?«
»Beweisen, dass ich unschuldig bin. Die Polizei glaubt mir nicht. Finden Sie die schuldige Person, und weisen Sie nach, dass Ms Thompson unrecht hat.«
Ich sah Chen an. Offensichtlich war er Austauschstudent, weit weg von zu Hause, im Krankenhaus ans Bett gefesselt, und die fremde Polizei saß ihm im Nacken – was für eine beängstigende Vorstellung. Er wirkte tatsächlich auch eingeschüchtert, in der Hauptsache aber empört. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und nichts von dem verdient, was ihm zugestoßen war. Mich wunderte es überhaupt nicht, dass er aufgebracht war.
»Genau das werden wir tun. Mein Partner gibt Ihnen jetzt seine Telefonnummer. Rufen Sie uns an, wenn die Polizei wieder mit Ihnen sprechen will oder wenn Sie sich bedroht fühlen. Donovan war früher bei der Militärpolizei. Glauben Sie mir, an ihm kommt keiner vorbei.«
Chen sah Donovan prüfend an, dann grinste er. »Das kann ich mir vorstellen.«
Donovan grinste zurück. »Geben Sie mir mal Ihr Handy, ich tippe die Nummer ein. Ich schicke Ihnen Nachrichten, wenn wir auf etwas Neues stoßen, okay?«
»Das finde ich sehr gut. Danke.«
Ich schaute zu, wie Donovan alles in Chens Handy eintippte, und fragte: »Wie lange müssen Sie noch im Krankenhaus bleiben? Haben Sie schon einen sicheren Ort für danach?«
»Meine Mutter kommt, um nach mir zu sehen. Ihr Flieger landet noch heute. Die Ärzte wollen mich erst in ein paar Wochen entlassen.«
Das ließ mich innerlich aufatmen. Es wäre mir gar nicht recht gewesen, ihn allein zu wissen. »Gut. Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich. Wir holen Sie aus dem Krankenhaus ab, okay? Wir wollen der Frau keine Gelegenheit geben. Es klingt, als hätte sie sie nicht alle.«
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