Ellen blinzelte hinter den Brillengläsern. Dann sah sie ihn sich noch mal an, dieses Mal weniger eingeschüchtert. »Oh. Ja, das ist gut. Es ist immer praktisch, wenn Sie jemanden dabeihaben. Ich gebe Ihnen mal die Besucherpässe. Bei wem sind Sie denn heute?«
»Bei Kurt.«
»Dieser Kerl«, schimpfte sie, während sie nach dem Körbchen mit Besucherausweisen griff. »Ich schwöre, er würde sogar vergessen, es mir zu sagen, wenn er seinen eigenen Kopf verlegt hätte. Er ist so was von unorganisiert. Hier, die sind für Sie. Ich piepse ihn mal an.«
Folgsam klemmte ich mir den Pass an den Hemdkragen, während ich nur mit halbem Ohr zuhörte, als sie uns anmeldete. Währenddessen beugte sich Donovan zu mir herunter und raunte mir zu: »Um wen geht es heute eigentlich?«
Da fiel mir wieder ein, was ich vergessen hatte, und ich antwortete mit einem entschuldigenden Blick: »Ach ja, wir sind vorhin vom Thema abgekommen. Wir sind hier, weil einer der Insassen unter Umständen in einen weiteren Fall verwickelt ist, in dem gerade ermittelt wird. Goddard ist ein Pädophiler, der vor zwei Jahren wegen dreier sexueller Übergriffe verurteilt wurde. Er ist eindeutig überführt und kommt hier so schnell auch nicht wieder raus. Aber jetzt hat Kurt Hinweise darauf, dass er vielleicht auch einem vierten Jungen etwas getan hat. Wir sind hier, um herauszufinden, ob er es wirklich war oder ob da draußen noch ein Perversling rumläuft, der Kinder überfällt und der gefasst werden muss.«
»Verstehe. Wirst du öfter deswegen hierherbestellt? Um zu prüfen, ob Insassen noch mehr auf dem Kerbholz haben?«
»Entweder das, oder ich helfe dabei, nachzuvollziehen, wo die Leichen begraben sind.« Seufzend blickte mich um und fühlte mich auf einmal viel älter als meine 25 Jahre. »Die Besuche hier sind nie schön für mich.«
Die Gittertür öffnete sich mit einem Summton, und Kurt trat ein. Er war ein ehemaliger Polizist, der im Dienst verletzt worden war und seither Schreibtischdienst machen musste. Aus ihm hätte ein guter Kriminalbeamter werden können, aber diese Möglichkeit war ihm wegen des kaputten Knies verwehrt. Heute fungierte er als Verbindungsmann zwischen den Revieren und dem Gefängnis und unterstützte die Kriminalpolizei bei der Aufklärung von Fällen wie diesem. Ein strahlendes Lächeln glitt über sein faltiges Gesicht, wobei man seine nikotinverfärbten Zähne sehen konnte. »Grüße Sie, Jon. Haben Sie einen Freund mitgebracht?«
»Donovan Havili, unser neuer Kriminalberater bei der Psy«, stellte ich vor. »Donovan, das ist Kurt Bowen.«
Zumindest Kurt schien sich von Donovans Aussehen nicht zu einer vorschnellen Meinung über ihn verleiten zu lassen und streckte ihm die Hand entgegen. »Wilkommen im Irrenhaus, Mr Havili.«
»Danke«, gab Donovan zurück und schüttelte ihm die Hand.
»Er ist heute meine persönliche Elektronikbarriere«, scherzte ich. »Ich will Ihr Telefon nicht schon wieder zerstören.«
»Gott sei Dank. Also gut, kommen Sie rein. Sie haben Ihren Kollegen schon eingewiesen? Gut, gut. Goddard wartet in einem Besucherraum. Ich habe ihn noch nicht befragt. Mr Havili, wenn wir gleich reingehen, achten Sie bitte darauf, dass Jon die Tür nicht anfasst. Alles andere sollte kein Problem sein, es sind keine elektronischen Geräte außer der Schließanlage im Raum.«
Donovan nickte. »Das kriege ich hin.«
Wir folgten Kurt durch den schmalen Gang, den zu beiden Seiten Metalltüren säumten. An manchen blätterte die Farbe ab. Ich hielt mich in der Mitte, um nichts anzufassen, überwiegend aus Gewohnheit. Überwiegend.
Auf halber Höhe schloss Kurt mit seiner Karte eine Tür auf und ging hindurch. Ich wich aus, damit Donovan die Tür aufhalten konnte, was er auch prompt tat. Dann stellte er sich vor das Schloss, sodass ich es nicht versehentlich berühren konnte. Zu meiner großen Beruhigung wuchs er schnell in seine Rolle hinein. Ich trat in den kargen Raum.
Das Gefängnis war Goddard nicht gut bekommen. Das hatte ich auch nicht anders erwartet, denn mit Pädophilen hatten selbst Kriminelle kein Erbarmen. Eigentlich fand ich es erstaunlich, dass Goddard nach zwei Jahren immer noch am Leben war. Seine Aura war normalerweise dunkel und verdreht. Jetzt hatte sie eine zusätzliche Schicht tintiger Sättigung, die es noch abstoßender machte, ihn anzusehen. Er saß da wie ein in die Enge getriebenes Tier, zusammengekauert, die Augen eingesunken und die Lippen, die er ständig wie unter Zwang befeuchtete, blutig und aufgesprungen. Als er Donovan erblickte, sank er noch mehr in sich zusammen, als hätte er Angst, dass der Böse Mann nun gekommen sei, um ihn zu holen.
Dann fiel sein Blick auf mich, und er fletschte die Zähne. »Jonathan Bane.«
»Tag, Goddard«, erwiderte ich ruhig. Goddard hatte nicht besonders viel für mich übrig. Bevor ich auf den Plan getreten war, hatte die Polizei einen anderen Verdächtigen gehabt. Auf Goddard waren sie erst durch mich aufmerksam geworden. Dafür hasste er mich immer noch. »Kurt hat eine Frage an Sie.«
»Und da bringt er natürlich seinen Lieblings-Zirkusaffen mit«, höhnte Goddard, dann zuckte er zurück und zog wieder den Kopf ein.
Ich fragte mich, wieso, bis ich eine warme Hitzelinie an meinem Rücken spürte. Donovan berührte mich nicht, stand aber so dicht hinter mir, dass ich jeden Atemzug spüren konnte. Er war wie eine lebende Waffe, bereit, schon bei der kleinsten Provokation loszugehen. Ich musste ihn noch nicht mal ansehen, um zu merken, wie sein Beschützerinstinkt einrastete. Ich fand das unglaublich beruhigend. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so sicher gefühlt wie in diesem Augenblick. Eigentlich war das komplett absurd, schließlich kannte ich diesen Mann erst knappe sechs Stunden. Und trotzdem hatte ich nicht den leisesten Zweifel daran, dass er Goddard schnell und gnadenlos bezwingen würde, sollte er mich angreifen.
Es fühlte sich großartig an.
Bei Donovans Miene schien selbst Kurt leicht nervös zu werden, offenbar machte er ein ganz schön böses Gesicht. Aber Kurt schüttelte die Beklemmung ab und setzte sich Goddard gegenüber an den Tisch.
»Wir haben eine einfache Frage an Sie. Wenn Sie sie beantwortet haben, können Sie wieder in die Bibliothek zurück. Haben Sie Jesse Thorpe ebenfalls sexuell genötigt?«
Goddard starrte mich verstockt an.
Den Blick kannte ich gut. Emotionen waren nie ganz exakt zu lesen und zuzuordnen. Sie waren nicht mit Etiketten versehen, und ich konnte nicht immer ihre Ursache erkennen. Aber diese Reaktion war nicht ungewöhnlich. Kriminelle, denen klar war, was ich tat, schauten mich ständig so an. Sie wussten, dass Lügen sinnlos war, also zogen sie es vor, zu schweigen. Was sie natürlich nicht wussten, war, dass ich keine Gedanken lesen konnte. Ich sah zwar, dass Goddard solche Verbrechen begangen hatte, doch wie viele Opfer es gab, konnte ich nicht feststellen. Aber da ich den Verbrechern nicht genau erläuterte, worin meine Gabe bestand, konnte ich ein bisschen tricksen.
»Ja, hat er.«
Fauchend wie die verdorbene Kreatur, die er war, warf Goddard sich zurück und zerrte an den Fesseln, die an seinen Handgelenken klirrten. »Dreckiges Arschloch! Als ob ich nicht schon für die nächsten sechzig Jahre hier drin verrotten müsste. Was interessiert es dich, ob ich ein Kind mehr oder weniger hatte?«
»Weil Sie dann noch weitere zwanzig Jahre bekommen, deswegen«, zischte Kurt zurück. Er sah zornig und resiginiert zugleich aus, als er wieder aufstand. »Tja, dann wäre das ja geklärt.«
Ein Teil von mir wünschte, die Antwort wäre Nein gewesen – der Teil, der sich wünschte, dass dem Kind nichts zugestoßen wäre. Andererseits war ich auch froh, dass Goddard der Täter war, einfach weil der Mann ja schon hinter Schloss und Riegel saß und somit nie wieder einem Kind etwas antun würde. Kopfschüttelnd wandte ich mich um, vorsichtig, um Donovan nicht anzurempeln, der sich mitdrehte und mir den Weg zur Tür frei machte.
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