Dann lachten alle, und besonders Herr Wardle, der, wo es einen Spaß galt, so heiter wie der jüngste war, abermals. Herr Snodgraß flüsterte Emilien fortwährend poetische Phrasen ins Ohr, und das veranlaßte einen alten Herrn zu vielen Bemerkungen und Anspielungen auf Kompagniegeschäfte im Spiel und Leben, worüber die Gesellschaft aufs neue in ein herzliches Gelächter ausbrach, namentlich die Ehehälfte des alten Herrn. Auch Herr Winkle tat sich in Witzen hervor, die in der Stadt abgedroschen, aber auf dem Lande noch unbekannt waren, und da alle darüber lachten und sie ganz köstlich fanden, so tat er sich viel darauf zugute. Der wohlwollende Geistliche sah heiter zu, denn die vielen glücklichen Gesichter, die er an dem Tische sah, erwärmten das Herz des guten alten Mannes. Wenn auch die Lust etwas lärmend war, so kam sie doch aus dem Herzen, nicht bloß von den Lippen, und darin besteht doch eigentlich die wahre Heiterkeit.
Bei dieser fröhlichen Unterhaltung verstrich der Abend sehr schnell, und als die Gesellschaft nach dem zwar ländlichen, aber schmackhaften Abendessen einen Halbkreis am Kamin bildete, war es Herrn Pickwick, als hätte er sich in seinem ganzen Leben nicht so glücklich und so geneigt gefühlt, den Zauber des Augenblicks in so vollen Zügen zu genießen.
»Gerade so,« sagte der gastliche Wirt, der neben dem Lehnstuhl der alten Dame saß und ihre Hand in der seinigen hielt – »gerade so habe ich es gern. Die glücklichen Augenblicke meines Lebens entschwanden mir an diesem Kamine, und ich liebe ihn darum so sehr, daß ich jeden Abend Feuer machen lasse, bis man es vor Hitze fast nicht mehr aushalten kann. Meine gute alte Mutter freute sich schon auf jenem kleinen Stuhl dieses Kamins, al» sie noch ein Kind war – nicht wahr, Mutter?«
Die Träne, die unwillkürlich bei der Erinnerung an vergangene Zeiten und das Glück früherer Jahre das Auge schimmern machte, glitt über die Wange der alten Dame, als sie mit melancholischem Lächeln den Kopf schüttelte.
»Sie müssen mir mein Schwatzen über diesen alten Ort zugute halten, Herr Pickwick«, hob der Wirt nach einer kleinen Pause wieder an: »aber ich liebe dergleichen und kenne fast keine andere. Die alten Gebäude und Felder sind mir wie lebende Freunde, und so auch unsere kleine Kirche mit dem Efeu, den, beiläufig bemerkt, unser vortrefflicher Freund hier bei dem Antritt seiner Stelle durch ein Gedicht verherrlichte. – Herr Snodgraß, haben Sie etwas in Ihrem Glas?«
»Es ist noch voll, ich danke«, erwiderte der Gentleman, dessen poetische Neugier durch die letzte Bemerkung des Sprechers im höchsten Grade rege gemacht worden war. »Ich bitte um Verzeihung, Sie erwähnten da ein Gedicht über den Efeu?«
»Sie müssen sich deshalb an unsern, Ihnen gegenübersitzenden Freund wenden«, sagte der Wirt, indem er mit einer leichten Verbeugung auf den Geistlichen deutete.
»Dürfte ich Sie wohl um die Mitteilung desselben bitten?« sagte Herr Snodgraß.
»Ach, es ist nicht viel daran,« versetzte der Geistliche, »und ich kann die Abfassung nur damit entschuldigen, daß ich, als ich es dichtete, noch Jüngling war. Doch wenn Sie es wünschen, so sollen Sie es hören: ich muß aber um Nachsicht bitten.«
Auf diese Worte folgte ein neugieriges Gemurmel, und nun begann der alte Herr mit einiger Hilfe seiner Frau die betreffenden Verse zu rezitieren. »Ich habe sie betitelt«, sagte er:
»Der Efeu.«
»Ein köstlich Gewächs ist der Efeu grün,
Der das alte Gemäuer umspannt.
Ein leckeres Mahl ist bereitet für ihn
An der kalten, einsamen Wand.
Er höhlt die Mauer, durchwühlt den Stein,
Der verzehrenden Gier nur bedacht.
Welch herrliches Mahl der Staub muß sein,
Den Jahrhunderte ihm vermacht!
Wo kein Leben mehr will erblühn,
Blüht noch der alte Efeu grün.
Fest klammert er sich auch ohne Arm,
Hat ein kräftiges altes Herz;
Er ranket sich und schmiegt sich warm
An die Freundin, die Eiche, himmelwärts;
Ihn überwölbend still mit Laub,
Wo er sich um die Gräber schmiegt.
Sich nährend von moderndem Staub,
Wo der grimmige Tod erschien.
Blüht noch der alte Efeu grün.
Wenn Menschenalter der Tod entführt.
Wenn Völker mit ihren Werken verblühn,
Sein saftig lebendiges Grün.
In seinen einsamen Tagen lebt
Unsterblich er von der Vergangenheit;
Der stolzeste Bau, den der Mensch erhebt,
Ist ihm endlich zur Speise geweiht.
Wo die Zeit schon gekommen hin.
Blüht noch der alte Efeu grün.«
Während der alte Herr diese Verse nochmals wiederholte, um es Herrn Snodgraß zu ermöglichen, sie zu notieren, betrachtete Herr Pickwick die Gesichtszüge des Geistlichen mit großem Interesse, und als der alte Herr mit Diktieren fertig war und Herr Snodgraß sein Notizbuch in die Tasche gesteckt hatte, begann das würdige Pickwickier -Haupt:
»Sie entschuldigen, Sir, daß ich mir nach einer so kurzen Bekanntschaft eine Bemerkung erlaube. Ich sollte meinen, ein Mann wie Sie müßte während seiner Amtsführung als Diener des Evangeliums so manche der Mitteilung werte Szenen und Ereignisse erlebt haben.«
»Allerdings erlebte ich schon vieles«, erwiderte der Geistliche; »aber die meisten Ereignisse und Charaktere, die mir vorkamen, waren bei meinem beschränkten Wirkungskreise nur gewöhnlicher Art.«
»Ich nehme indessen an. Sie haben sich einiges über John Edmunds aufgezeichnet, nicht wahr?« fragte Herr Wardle, der ihn im Interesse seiner neuen Gäste zum Erzählen anzuregen suchte.
Der alte Herr nickte bejahend, wollte jedoch dem Gespräch eine andere Wendung geben, als Herr Pickwick sagte:
»Um Vergebung, Sir, wenn ich fragen darf, wer war denn dieser John Edmunds?«
»Ja, das wollte ich eben auch fragen«, fiel Herr Snodgraß rasch ein.
»Sie verstehen sich ja auf solche Dinge«, sagte der aufgeräumte Wirt. »Und es hilft Ihnen nichts, Sie müssen die Neugier dieser Herren früher oder später doch einmal befriedigen. Das Beste wäre, wenn Sie der jetzigen Aufforderung Gehör gäben und es gleich täten.«
Der alte Herr lächelte gutmütig und rückte seinen Stuhl weiter vor. Die übrige Gesellschaft setzte sich enger zusammen, besonders Herr Tupman und die Jungfertante, die etwas schwerhörig sein mochte, und nachdem der alten Dame das Hörrohr an das Öhr gesetzt, und Herr Miller, der während der Rezitation der Verse in Schlaf gefallen, durch ein anregendes Kneipen unter dem Tische von seiten seines Ausspielgefährten, des feierlichen dicken Mannes, aufgeweckt worden war, begann der Geistliche ohne weitere Vorrede folgende Erzählung, die wir uns zu betiteln erlauben:
»Die Rückkehr des Sträflings.«
»Als ich mich – es sind jetzt bereits fünfundzwanzig Jahre – hier in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, Namens Edmunds, das verrufenste Individuum in meinem Kirchspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mann, träge und Ausschweifungen ergeben, dabei wild und grausam von Gemüt. Mit Ausnahme weniger liederlicher Gesellen, mit denen er herumzustreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit dem Manne verkehren, den viele fürchteten. Alle aber verabscheuten ihn, und so ward er denn von jedermann gemieden.
Dieser Mann hatte ein Weib und einen Sohn, der zur Zeit, wo ich hierher kam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie diese ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel mag es mir verzeihen, wenn ich dem Manne unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes, und wie unglaublich das auch vielen vorkommen mag, um seines Vaters willen. So roh er nämlich auch war, und so grausam er mit ihr umging, sie hatte ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrem Herzen, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß beim Weibe findet.
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